Manchmal fällt es mir schwer zu glauben, was an Freien Schulen passiert. Obwohl ich mich fast tag täglich mit dem Thema beschäftige, habe ich manchmal Zweifel: Das kann doch gar nicht sein, dass Schüler* ohne äußeren schulischen Druck Disziplin haben und Dinge durchziehen können. Das kann doch gar nicht sein, dass so viele Schüler einer Freien Schule einen sehr guten Abschluss machen. Das kann doch gar nicht sein, dass sie bei dieser freien Art zu lernen, sich hinterher trotzdem in einer Leistungsgesellschaft zurecht finden.

Gestern haben sich meine Zweifel reduziert. Ich habe Michi* kennengelernt. Michi ist 21 Jahre alt und im Freien Schulsystem aufgewachsen. Mit dem Schools-of-Trust-Team legen wir eine intensive Arbeitswoche an Michis alter Schule ein. Michi will bei uns im Bereich Fundraising mitarbeiten und so lerne ich ihn näher kennen.

Für Michis Mutter war schon früh klar, dass er in einer Regelschule nicht gut aufgehoben ist. Bereits mit fünf Jahren konnte er die 2er-Reihe bis zur 8. Potenz rechnen. Mit sieben erklärte er seiner Mutter, wie Elektronen funktionieren. Doch sie hat kaum etwas verstanden – in der 11. Klasse hat sie Physik abgewählt.

Am Anfang dachten alle, Michi sei ein Autist mit einer Hochbegabung für Zahlen. Jetzt merken alle: Er ist eine Person mit einer Hochbegabung für Menschen. Die Zeit auf einer Freien Schule hat ihn verändert, hat ihn in seiner Persönlichkeit bestärkt, hat ihm die Möglichkeit gegeben, sich zu entfalten.

Durch Michi  sehe ich meine Zweifel aus einem neuen Blickwinkel

Zweifel
Auf unserer Reise zu Freien Alternativschulen war ich vor allem mit jüngeren Schülern in Kontakt.

Inzwischen macht Michi eine Ausbildung zum Informatiker und wohnt in der WG über seiner alten Schule. Ich merke schnell: es ist anders, mit einem ehemaligen Schüler einer Freien Schule in Kontakt zu kommen. Auf unserer Reise habe ich meistens nur Schüler getroffen, die selbst noch zur Schule gehen. Michi ist ein ehemaliger Schüler, der im gleichen Alter ist wie ich. Ein Schüler, den ähnliche Lebensfragen wie mich beschäftigen. Als ehemalige Schülerin einer Regelschule merke ich, wie ich anfange, zu vergleichen und zu beobachten, um mir mein eigenes Bild zu erstellen. Welche Auswirkungen hat die Regelschulzeit auf mein Leben? Welche Auswirkungen hat die Freie Schulzeit auf Michis Leben? Wo liegt der Unterschied? – Einige Beispiele:

Während wir im Team einen Text besprechen, frage ich nach einem Fremdwort. Als ich später auf seinen Computer schaue, sehe ich, dass er es direkt nachgeschaut hat. Seine Neugierde, die er auf der Freien Schule ausleben konnte, hat er beibehalten. Er geht Impulsen nach. Wartet nicht wie ich, bis er eine Aufgabe beendet hat und der Impuls bereits untergegangen ist.

Zweifel
Bereits früh war Michis Talent zum Informatiker kenntlich. Vielleicht macht dieser Junge ja auch später mal eine Informatik-Ausbildung.

Während ich mich darüber aufrege, wie kompliziert es ist, manche Bilder in einem bestimmten Programm zu designen, sucht Michi ein neues Programm. Ein Programm, was nur für Rahmen gedacht ist. Der, der unter so leistungsfernen Lernbedingungen aufgewachsen ist, denkt viel effizienter als ich. Auf der Freien Schule hat er gelernt, Dinge, die ihn nicht interessieren oder ihm keinen Spaß machen, mit einem minimalen Aufwand zu lösen. Das Erstaunliche: Dabei geht die Qualität der Aufgabe nicht verloren.

Während wir eine Sache besprechen, die Michi nicht betrifft, malt er komische Zeichen auf ein Blatt Papier. Ich frage ihn, was das für Zeichen seien – Stenografie. Er hätte sich das in der letzten Zeit selbst beigebracht. Auf der Freien Schule hat er gelernt, Lernprozesse selbst in den Gang zu bringen, sich eigene Lernziele zu setzen. Diese beginnt er nicht, um sie nach kurzer Zeit aufzugeben. Dann wenn es hart und schwierig wird. Im Gegenteil: er hat gelernt, sie ehrgeizig zu verfolgen.

Während ich in meiner Pause kurz auf Instagram gehe und mich update, was in dem Leben der Anderen in der Zwischenzeit passiert ist, malt Michi weiter Stenografie. Michi ist nicht auf Social Media. Er zockt auch nicht. „Dafür ist mir die Zeit zu schade“, sagt er mir. Die Freie Schule hat ihm gezeigt, wie er seine Zeit investieren will, was ihm im Leben wirklich wichtig ist. Sie hat ihm auch gezeigt, dass Mainstream nicht immer der beste Weg ist.

Zweifel
Das Abitur steht bei Michi vor der Tür.

Letzten Monat ist er an eine Regelschule gegangen – allerdings nur ins Sekretariat, um sich ein neues Ziel zu stecken. Er hat sich für das Abitur 2019 angemeldet. Dieses wird er mitschreiben, obwohl er währenddessen seine Informatik-Ausbildung macht. Vorbereiten muss er sich selbst. Das hat er sich in den Kopf gesetzt und will es durchziehen. Auf seiner Schule hat Michi gelernt, realistisch seine Fähigkeiten einzuschätzen. Er weiß, wo seine Stärken liegen, hat das Selbstbewusstsein und den Mut große Dinge anzugehen – auch ohne Schule im Rückhalt. Denn er weiß, warum er dieses Ziel auf sich nimmt. Er ist motiviert: Nach seiner Informatik-Ausbildung möchte er gerne noch studieren.

Mein Zweifel schlägt um

Es sind Fähigkeiten wie diese, die er aus seiner Freien Schulzeit mitgenommen hat: sich selbst Ziele setzen, Eigeninitiative zeigen, effizient denken. An Freien Schulen stehen nämlich folgende Werte auf dem „Lehrplan“: Mut, Selbstständigkeit, Selbstbewusstsein, Toleranz, Teamfähigkeit, Neugierde und Spaß am Lernen. Das Tolle: Dieses Gelernte hat sich eingeprägt. Es wird ihn sein Leben lang begleiten. Während ich in der Schule die Relativitätstheorie gelernt habe, von der ich bereits jetzt nicht mehr weiß, was sie eigentlich ist.

Selbstverständlich, all diese Eigenschaften hängen viel vom Elternhaus ab. Aber ich bin davon überzeugt, dass die Wurzeln, die im Elternhaus gelegt wurden, in der Schule weitergepflegt werden müssen. Sonst gehen sie ein.

Die Begegnung mit Michi hat etwas in mir verändert. Vielleicht lösen sich meine Zweifel im Laufe der Zeit auf, wenn ich noch mehr Schüler wie Michi treffe. Schüler, die zeigen, dass es keinen Druck und Zwang braucht, damit “etwas aus dem Kind wird”. Schüler von Freien Schulen, die zeigen: Michi ist kein Einzelfall, sondern die Regel.

 

*Mit allen männlichen Schreibformen in dem Artikel sind alle Mädchen und Frauen gleichberechtigt mit gemeint.

*Michi wollte ungerne, auf einem Foto zu sehen sein. Deswegen gibt es in dem Artikel kein Foto von ihm.

 

Hier geht’s zum letzten Artikel: Von jemandem, der auszog, um Chancengleichheit zu fordern.

Tabea hat eine Kolumne über eine Reise zu acht verschiedenen Freien Schulen geschrieben. Mehr dazu findet ihr hier.

 

Eine Antwort

  1. Vielen Dank für diesen wunderbaren, mutmachenden Artikel! Ich selbst bin als Mutter extra von Frankfurt nach Berlin umgezogen um meinem Sohn in Zukunft eine wunderbare freie Schule zu ermöglichen. Und ja, es packen mich auch öfters Zweifel, in mal „was richtiges aus ihm werden kann“, auf so einer Schule… da hilft mir dieser Artikel sehr, positiv zu denken und an die Fähigkeiten in meinem Kind zu vertrauen!

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