Eine neue Kolumne auf dem Blog von Schools of Trust. Patrick ist Lernbegleiter an einer Freien Schule in Niedersachsen und berichtet ab jetzt wöchentlich von seinen Erfahrungen.
Manchmal bilde ich mir ein, mit dem Hobbit Frodo Beutlin im Grunde das gleiche Schicksal zu teilen. Wie der oder die „Herr der Ringe“ Kenner*in sicherlich weiß, erklärte sich Frodo, der Held der Geschichte, bereit, den ‚Einen Ring‘ des dunklen Herrschers Sauron, der allein die Macht besaß, ganz Mittelerde ins Chaos und Verderben zu stürzen, zum berüchtigten Schicksalberges in das Land Mordor zu bringen.
Dort allein, in den Feuern des gewaltigen Vulkans, könne der Ring zerstört werden. Doch auf der langen Reise zum Schicksalberg zermübte und korrumpierte der magische Ring seinen Träger Frodo, sodass es am Ende eines glücklichen Zufalls bedurfte, um den Ring tatsächlich und endgültig zu zerstören.
Nachdem die Mission nun erfüllt war, kehrte der heldenhafte Hobbit in das Auenland, seine Heimat, zurück. Doch lange hielt er es dort nicht aus, denn die Wunden, die ihm einerseits der Hexenmeister von Angmar auf der Wetterspitze und andererseits der Ring auf seiner langen Reise zufügten, wollten einfach nicht heilen.
Heilung schien allein in Valinor, dem mystischen Sitz der Götter und Elben, möglich. Und so bestieg Frodo das Schiff in Richtung Westen und kehrte nie wieder nach Mittelerde zurück.
Ein unbekannter Weg
Der oder die pfiffige Leser*in wird sich natürlich fragen, was das Schicksal Frodo Beutlins auch nur im Ansatz mit dem Leben eines jungen Lernbegleiters an einer freien und alternativen Schule gemein haben könnte. Nun, wie Frodo wurde mir eine tiefe Wunde zugefügt – selbstverständlich nicht vom obersten Fürsten der Nazgûl oder dem einen Ring – sondern von meinem Referendariat und meinen dies bezogenen Erfahrungen im staatlichen Regelschulsystem.
Aber keine Angst! Es folgt nun keine ellenlange Abhandlung über die Absurditäten des Referendariats – den meisten dürfte ohnehin bekannt sein, unter welch grotesken Anforderungen und Erwartungen junge Anwärter*innen zu leiden haben. Stattdessen möchte ich weiter ausführen, was mich – abgesehen von der geringen Körpergröße und meinen ungewöhnlich stark behaarten Füßen – in meinen Augen noch mit Frodo Beutlin verbindet. Es sind nicht nur die Wunden, die nie richtig geheilt sind und dies vielleicht auch nie vollständig tun werden. Es ist auch der Entschluss, fortzugehen und der Welt, aus der man stammt, auf ewig den Rücken zu kehren – in der Hoffnung, in der Ferne doch noch irgendwie genesen zu können. Statt dem Auenland habe ich mich durch Abbruch meines Referendariats für immer aus dem Regelschulsystem verabschiedet und einen für mich ganz neuen und unbekannten Weg eingeschlagen.
Und auf diesem Weg spüre ich mittlerweile immer mehr, wie ich meinem persönlichen Valinor tagtäglich ein Stückchen näher komme.
Wertschätzung
Das mag für den ein oder anderen Leser oder Leserin vielleicht ein wenig überzogen klingen. Sehe ich ein. Dennoch glaube ich, dass es kaum einen passenderen Vergleich gibt, um meinen beruflichen Werdegang der letzten zwei Jahre zu beschreiben. Die Erfahrungen, die ich täglich sammle, sei es in der Interaktion mit den Kindern, in den unzähligen Beobachtungen oder der Zusammenarbeit und Kommunikation mit dem Team und den Eltern vermitteln mir immer wieder:
Ja – die Arbeit die ich mache ist wertvoll. Ja – die Arbeit die ich mache ist sinnvoll. Und ja – die Art und Weise wie ‚Unterricht‘ und Lernen an unserer Schule gestaltet und organisiert wird, entspricht vielmehr den Bedürfnissen, die ich als Mensch und Lehrperson habe.
Ein anderes Bildungssystem
Wenn ich nun also in den kommenden Wochen und Monaten meine Erfahrungen als Lernbegleiter an einer freien und alternativen Schule hier auf diesem Blog teile, dann bitte ich euch als kritische Leser*innen, meinen besonderen biografischen Background im Hinterkopf zu behalten. Denn ich blicke auf das alternative Schulsystem als einer, der im staatlichen Regelschulsystem gewissermaßen unter die Räder gekommen ist. Als einer, der nun Tag für Tag spürt und entdeckt, wie ein Bildungssystem aussehen könnte, in dem die verträumten, introvertierten, kreativen, rebellischen, verplanten, unorganisierten, starrköpfigen, empfindsamen, unsicheren und idealistischen Menschen aufblühen anstatt „aussortiert“ werden.
Fragen über Fragen
Mit dieser besonderen Perspektive möchte ich in der nächsten Zeit die Fragen mit euch teilen, die ich an das alternative Bildungssystem stelle und die mir in meiner täglichen Arbeit begegnen – und praktischerweise möchte ich auch gleich meine eigenen vorläufigen Antworten mitliefern. Denn auch wenn ich mich an meiner Stelle irre wohlfühle und meine Arbeit mich erfüllt, so werde ich von dem Alltag doch immer mal wieder irritiert und muss innehalten, um nach Antworten zu suchen. Einige Fragen schwirren mir immer wieder im Kopf herum:
- Welche Lernprozesse finden im tagtäglichen und ziellosen Spiel oder auch in der andauernden Kommunikation und Konfrontation mit den Mitmenschen eigentlich statt?
- Welche Rolle nehmen wir als Lernbegleiter*innen ein? Worin besteht eigentlich genau unsere „Aufgabe“? Wie sieht unser professionelles Selbstverständnis aus?
- Sind insbesondere jüngere Kinder von der Freiheit und den vielfältigen Beschäftigungsmöglichkeiten an einer freien Schule manchmal schlicht überfordert? Wäre mehr Struktur und Orientierung notwendig? Kann das gesamte Angebot überhaupt von den Schüler*innen sinnvoll genutzt werden?
- Gelingt Inklusion und Integration an einer freien Schule automatisch? Braucht es eine stärkere professionelle Unterstützung? Oder sogar eine Änderung der Strukturen?
- Genügt eine freie Schule den Ansprüchen einer umfassenden Bildungs- und Chancengerechtigkeit? Oder handelt es sich bei freien Schulen doch nur um Schulen für alternativ angehauchte, aber in der Regel privilegierte Bürgerkinder?
Aus den Gesprächen mit meinen Kolleg*innen weiß ich, dass wir uns alle immer wieder diese Fragen stellen, eine umfassende und zufriedenstellende Antwort jedoch nicht immer finden. Und auch ich werde das im Rahmen einer Kolumne nicht umfassend leisten können. Dennoch lade ich euch als Leser*innen ein, an den manchmal vielleicht unausgegorenen, aber mit Sicherheit immer neugierigen, offenen und (das behaupte ich jetzt einfach mal!) unkonventionellen Gedanken und Fragen eines jungen Lernbegleiters teilzuhaben.
Und auch das scheint mir eine Erfahrung zu sein, die ich mit Frodo Beutlin teile. Zwar bleibt am Ende der Geschichte offen, ob Frodo in Valinor nun das erlebt, was er sich zuvor erhofft hatte, dennoch bin ich der festen Überzeugung, dass er genauso fragend und neugierig durch das mystische Valinor stapfen würde wie ich nun durch das alternative Schulsystem.
2 Antworten
Das sind die Fragen! Freue mich auf weitere Beiträge!