Kolumne, Teil II

 

Eine Gruppe junger Kinder läuft lachend auf einer Straße. Die Hauswände sind mit Graffiti beschmiert. Es ist zwölf Uhr mittags – in Hamburg Wilhelmsburg herrscht eine angenehme Stimmung. Es sind noch nicht so viele Menschen unterwegs. Die meisten sind noch auf der Arbeit. Da ist ein Lachen in der Ferne, eine Frau kauft sich gerade einen Döner und ein Bus hält an einer Haltestelle. Mein Blick schweift zurück zu der Gruppe von Kindern, die im Grundschulalter sind. Ein Mädchen mit dunkler Haut und langen, lockigen Haaren hält ein Schild in der Hand. Sie sieht aus, als würde sie gleich auf eine Demonstration gehen. Ein anderes Mädchen klebt bunt bemalte Zettel mit Tesafilm an einen Lampenpfahl. Ein Junge ruft laut: „Super Beauty — eine Session für nur 10 Cent!!!“

Maditha, Yale und Tom* wollen ihren eigenen Beautysalon eröffnen. Dazu haben sie ihre Schminktasche mit in die Schule gebracht. Den Lippenstift von Mama inklusive. An der FLeKS (Freies Lernen – Kollektiv und Selbstbestimmt) ist das möglich. Die drei Kids haben die Vision eines Treffpunktes für Nachbarschaftshilfe. Das haben sie im Nachbarhaus so gesehen und wollen das nun auch.

Wilhelmsburg ist ein interkulturelles Viertel in Hamburg Mitte. Hip und bunt. Mit Problemen belastet. Es gibt deutlich mehr Sozialleistungsempfänger und Arbeitslose als im Hamburger Durchschnitt. Mittendrin liegt die FLeKS. Das ist ungewöhnlich für Freie Schulen, die sonst auf dem Land sind – in einem riesigen Haus mit riesigen Garten. Freie Schulen, die eine „heile Welt“ irgendwo im Nirgendwo sind. Freie Schulen, deren Elternschaft von der weißen, gebildeten, deutschen Bio-Mittelschicht geprägt ist.

Die FLeKS will genau das verhindern – das Entstehen einer homogenen Masse. Die Schule soll die Bevölkerung des Stadtteils abbilden. Mit all den Herausforderungen, die dies mit sich bringt: Wie erreicht man Familien aus einem anderen sozialen oder kulturellen Kontext? Wie erreicht man Eltern, deren Bild von Freien Schulen mit Vorurteilen behaftet ist? Wie erreicht man Menschen, die bereits im Regelschulsystem nicht durchblicken?

Die FLeKs versucht ihre eigenen Wege zu finden. Ihren Flyer und ihre Homepage haben sie in fünf Sprachen übersetzt. „Wir legen Wert darauf, an besonders alltäglichen Orten dafür zu werben – zum Beispiel in Supermärkten.“ erzählt mir Eliza, eine junge, selbstbewusste Frau. Wir haben uns zu einem Gespräch verabredet. Sie ist eine der Lernbegleiter*innen und Mitbegründer*innen der Schule. Für sie ist die Gründung der Schule auch ein politisches Projekt. Eine Stimme in der Welt für eine andere Bildung und Lebensweise. Eine Stimme aus 24 Schülern und fünf Lernbegleitern.

Maditha, Yale und Tom gesellen sich zu uns. Wir sitzen in der Leseecke, die mit Kissen, Decken und Sofas ultra gemütlich ist. Yale erzählt, dass sie heute zum ersten Mal ein Kopftuch trägt. Maditha spricht darüber, wie sie momentan Klavierspielen lernt. Tom beschäftigt, dass er seine Oma morgen im Altenheim besuchen wird.

Eliza und ich während unseres Interviews.

Diese Schule kann ein Beispiel für die Gesellschaft sein. Wir leben hier alle gut und friedlich zusammen. Trotz diesem Mix aus Ländern, Religionen, Werten und Ansichten.“ fügt Eliza stolz hinzu. Sie hat selber einen Migrationshintergrund — nicht um eine Quote zu erfüllen, sondern um das Beste für die Schule zu erreichen.

Diesem Willen sind allerdings auch Grenzen gesetzt. Freie Schulen kosten Geld. Vom Staat bekommen sie in Hamburg ca. 70% von dem, was eine Regelschule erhält. Allerdings haben Freie Schulen doppelt bis dreifach so viel Lehrpersonal. Wie soll man das finanzieren, wenn manche Eltern kaum Schulgeld zahlen können? Das ist eine der Herausforderungen der nächsten Jahre für die FLeKS. Sie ist in ihrem allerersten Schuljahr und hat Schulden von einer halben Million Euro. Die müssen abbezahlt werden. Durch gestaffelte Geldbeträge mit einem Maximum von 200€ im Monat und Spenden klappt es — irgendwie.

Ich werde von Tom geschminkt.

Hier gibt es ein Miteinander von Armen und Reichen. Ein Miteinander von Schwarzen und Weißen. Ein Miteinander von Jungen und Mädchen. Der Salon „Super Beauty“ ist ein gutes Beispiel dafür: Geleitet wird er von zwei Mädchen. Einer der beiden Angestellten ist ein Junge. Natürlich werde ich auch Kundin. Ich bekomme eine gratis Behandlung. Es fühlt sich gut an, wie Tom mir Lidschatten aufträgt und dabei keine blöden Blicke oder Beleidigungen von Außen erhält. Er hat eine ganz ruhige Hand. Fragt mich genau, welche Glitzerfarbe ich gerne haben möchte. Hält mir einen Spiegel vors Gesicht, damit ich sein Werk bestaunen kann.

Yale hat ihr eigenes Super-Beauty-Logo gemalt.

Ich denke an Zeiten meiner eigenen Kindheit zurück: ich hatte eine eigene Arztpraxis, meine eigene Postzentrale, die Briefe in unsere große weite Wohnung geschickt hat, habe als Polizistin die Straßen meiner Nachbarschaft (un)sicher gemacht. Diese Erlebnisse gehören zu den Lieblingserinnerungen meiner Kindheit. Hier gibt es den Raum, solche Erinnerungen zu schaffen.

Als Psychologiestudentin weiß ich, wie wichtig und lehrreich Rollenspiele sind. Wie wichtig es ist seiner Kreativität, seinen Gedanken und Ideen freien Lauf lassen zu können.

An dieser Schule brauchen die Kinder keinen Zettel und Stift zum Lernen. Das geht einfach so. Und so lernen sie ganz nebenbei, wie man sich sein eigenes Super-Beauty-Business aufbaut. Wie man gut dafür wirbt. Diskutieren, welche Preise ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis machen. Fragen sich, wie sie ihren Laden vergrößern und erweitern können. Malen ihr eigenes Logo und Design.

Morgen geht es für mich weiter zur nächsten Schule. Maditha & Co. wollen morgen ihr Salon-Geschäftsmodell expandieren. Dann gibt es auch Nagellack für die Kunden.

 

 

*Namen sind geändert

 

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