Die Geschichte von Bildung und Schule wurde bis in die letzten Jahrzehnte hinein vor allem als eine Personen-, Ideen- und Institutionengeschichte geschrieben. Bildungsgeschichte orientierte sich an Dogmen und Ideen sowie an Personen, die pädagogisch aktiv waren. Ergänzend dazu findet sich seit einigen Jahren ein systemisch-konstruktivistischer Blick, der einen neuen Erklärungsansatz bietet. Im Sinne der Systemtheorie des Soziologen Niklas Luhmann betrachtet dieser Ansatz Geschichte unter dem Aspekt der Kommunikation und Interaktion von »Systemen«:
Nicht Menschen und Ideen bestimmen Realität, sondern die Kommunikationsbeziehungen zwischen Menschen und Institutionen, also zwischen Systemen und ihrer Umwelt. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen Funktionen und Strukturen, d. h. die Beziehungen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen wie z. B. Mensch, Familie, Politik oder Bildung. Die Systemtheorie ist eine Kommunikationstheorie, die nicht »Dinge« untersucht, »sondern Verhältnisse, Relationen, Funktionen oder Entwicklungen«[1].
Über Kommunikation entstehen Systeme und Institutionen – und Geschichte. Kommunikation wird dabei vor allem konstruktivistisch verstanden, d. h. gesellschaftliche Wirklichkeit und Realität werden von Systemen (Menschen und Institutionen) individuell über Handlungen (= Beziehungen) geschaffen und interpretiert. Menschen erhalten in der Systemtheorie keine herausragende Stellung bei der Erklärung der Welt. Es geht um Funktionen von Systemen in ihrer Umwelt. Eine objektive Wirklichkeit kann es nicht geben, da sie immer ein Produkt der Kommunikation ist. Gesellschaftliche Wirklichkeit und Begriffe sind Übereinkünfte, die aus Kommunikation entstehen. Beispielsweise ist ein Stuhl nur deshalb ein Stuhl, weil man sich darauf geeinigt hat. Einen Stuhl »als solches« gibt es nicht. Es gibt keine erkenntnisunabhängige Wirklichkeit! In diesem sehr komplexen Erkenntnisrahmen bewegt sich Luhmanns Systemtheorie[2] und analysiert die physische und psychische Welt. Der Blick auf Geschichte verändert sich damit grundlegend, wenn nicht mehr von Menschen mit ihren Ideen und Einrichtungen die Rede ist, sondern von Systemen, die funktional miteinander kommunizieren. Es gibt in der Systemtheorie kein »gut« und »schlecht« oder »böse« und keine moralischen/ethischen Grundkategorien, aus denen heraus Geschichte gedeutet wird (z. B. Vernunft, Aufklärung, Emanzipation, Klassenkampf). Es geht vielmehr um Viabilität im Sinne einer kulturellen Evolution, d. h. es muss passend, brauchbar und funktional aus der Sicht der beteiligten Systeme sein.
Schule und Bildung evolutionär gesehen
Systemtheoretisch kann die kulturelle Evolution der letzten 50.000 Jahre in vier Epochen eingeteilt werden, die sich durch unterschiedliche Vergesellschaftungsformen auszeichnen:
Die segmentäre Gesellschaft (gleichartige und gleichrangige »Segmente« [= Gruppen] bilden eine Gesellschaft) beschreibt die Phase der Jäger und Sammler vor der Sesshaftwerdung der Menschen (vor ca. 10.000 Jahre v. Chr.). Die daran anschließende Epoche der stratifikatorischen (geschichteten) Gesellschaft kennzeichnet die Zeit der frühen Hochkulturen (z. B. Ägypten), der Entstehung der Religionen, der Agrargesellschaften des Mittelalters. Der Zeitraum ab der Renaissance, also die so genannte »Moderne« mit dem Absolutismus, der Aufklärung, der Industrialisierung und den Nationalstaaten wird aus systemtheoretischer Sicht als eine funktional-differenzierte Gesellschaft beschrieben, in der der Bedarf an Funktionen und Strukturen eine neue Gestalt annimmt und sich die Kommunikation zwischen gesellschaftlichen Institutionen (Systemen) grundlegend ändert. In der Jetztzeit, also seit Ende des 20. Jahrhunderts, ist ein erneuter Bruch in der kulturellen Evolution erkennbar. Aus einer funktional-differenzierten Gesellschaft wird eine funktional-vernetzte Gesellschaft. Globalisierung und Weltgesellschaft, als ökonomisches und politisches Synonym für diese Epoche, stehen für Vernetzung, Integration und Deregulierung. Diese vier Epochen der kulturellen Evolution zeichnen sich durch unterschiedliche pädagogische Funktionen und Strukturen aus.
Die kulturelle Funktion von Bildung
Systemisch betrachtet ist es vor allem die Funktion der Stabilisierung, die Pädagogik in der sozio-kulturellen Evolution bedient. Sowohl in segmentären Gesellschaften der »Vorzeit« als auch in der stratifikatorischen Gesellschaft des Altertums und in der funktional–differenzierten Gesellschaft der Neuzeit ist es diese zentrale Funktion der Stabilisierung, die Bildung und Erziehung gesellschaftlich legitimieren. Pädagogik hat also eine systemerhaltende Funktion durch die Bewahrung von Wissen und Traditionen und die Weitergabe an eine neue Generation. Eine Erweiterung dieser Funktionalität erlebte die Pädagogik erstmals in der stratifikatorischen Gesellschaft mit der Selektion und ein weiteres Mal in der modernen Gesellschaft mit der Variation[3]:
Bildung, Lernen und Schule haben bis heute eine selektive Funktion. D. h. sie sollen auswählen und Differenz her- stellen. Es war in einer stark geschichteten Gesellschaft, wieder griechischen beispielsweise, nicht nötig, »allen alles zu lehren«. Lesen, Schreiben und Rechnen war nicht funktional für weite Teile der Bevölkerung. Die griechischen Sklaven brauchen diese Kulturtechniken nicht zu ihrem Überleben. Erst die Neuzeit mit einer funktional-differenzierten Gesellschaft benötigt eine zielgerichtete Erziehung und Bildung für alle. Luther hatte in diesem Sinne auch erstmals die Forderung nach einer allgemeinen Schulpflicht aufgestellt, damit alle die Bibel lesen konnten.
Variation bezeichnet eine unvermutete oder zielgerichtete Abänderung von Informations- und Kommunikationsabfolgen. Eine funktional-differenzierte Gesellschaft muss ein dynamisches Element bekommen und einen gesellschaftlichen Wandel auffangen können. Die Funktionen der Stabilisierung und Selektion sind statische Funktionen. Variationen sind dagegen Abweichungen und garantieren Sicherheit im Wandel. In diesem Sinne haben die Schulen in der Neuzeit auch eine höhere Flexibilität gegenüber z. B. mittelalterlichen Kloster- und Bürgerschulen.
Die jüngste kulturevolutionäre Funktion von Schule und Bildung ist Kontingenz, der Umgang mit Unsicherheit und Offenheit künftiger Entwicklungen. Schule muss nicht nur zu einer lernenden Organisation werden und auf gesellschaftlichen Wandel reagieren können, sondern muss auch das Unplanbare vorwegnehmen und als Kompetenz vermitteln können. Schule muss Kinder auf eine Wirklichkeit vor- bereiten, die sie und die Schüler noch nicht kennen. Es geht dabei, so die aktuelle pädagogische Diskussion, um so genannte Schlüsselqualifikationen oder Schlüsselkompetenzen. Gemeint sind da- mit z. B. Kooperations-, Organisations- und Prozesskompetenzen.
Die kulturellen Strukturen von Bildung
Aus systemtheoretischer Sicht ist das Lehren und Lernen einer kulturellen Entwicklung unterzogen, die mit zwei Parametern beschrieben werden kann (siehe Abbildung):
- Das emergente Lernsystem, d. h. der Ort, an dem etwas Neues auftaucht und entsteht, ist in einer segmentären Gesellschaft die Gesellschaft als Ganzes (= die Horde, der Familienclan). In stratifakatorischen Gesellschaften ist die Schicht oder Klasse/Kaste der Ort des Lehrens und Lernens und in einer funktional-differenzierten Gesellschaft ist es das Individuum. In einer globalisierten und funktional-vernetzten Gesellschaft werden segmentäre Gruppen, also homogene Gemeinschaften (z. B. Arbeitsteams, Milieus), zum emergenten Lernsystem.
- Parallel dazu verändern sich auch die Erziehungsformen von einer funktionalen (beiläufigen) Erziehung für alle in segmentären Gesellschaften über intentionale (zielgerichtete) Erziehung für wenige (z. B. Klosterschulen) hin zu einer stratifakatorischen Gesellschaft und einer intentionalen Erziehung für alle (z. B. Gesamtschulen) in funktional-differenzierten Gesellschaften. Heute ist die dominante Erziehungsform, bedingt durch die Bedeutung des selbstbestimmten und informellen Lernens, immer mehr durch eine intentionale Vielfalt verschiedener Milieus und Interessen (z. B. durch Privatschulen) gekennzeichnet: Intentionale Diversität.
Kontingenz bedeutet für Bildung Entschulung
Der Erziehungswissenschaftler und Entwicklungspädagoge Alfred K. Treml hatte in den 1980er-Jahren bei seiner systemtheoretischen Bildungsanalayse, vor allem die Schule im Blick. Hier muss heute jedoch ein Perspektivenwechsel vorgenommen werden. Sowohl aus demografischen und sozio-ökonomischen Gründen als auch aus einem evolutionstheoretischen Blick erhalten außerschulische Lernprozesse und ein so genanntes lebenslanges Lernen eine größere Bedeutung.
In diesem Sinne werden wir heute über Entgrenzungs- und Entinstitutionalisierungsentwicklungen in Bildung und Erziehung neu nachdenken und jene Gedanken von Ivan Illich aus den 1960/70er Jahren – »Schulen helfen nicht« – neu bewerten müssen[4]. Beiläufiges, informelles und nicht-formalisiertes Lernen (ohne Zeugnisse) wird zunehmend an Bedeutung gewinnen, d. h. gesellschaftlich funktionaler werden und Schulen eine neue Fassung geben. Wenn das System Schule diese Schnittstelle zum informellen und beiläufigen Lernen nicht schafft, dann werden Schulen für die Gesellschaft – um es systemtheoretisch zu formulieren – dysfunktional und nicht viabel; anders ausgedrückt: gesellschaftlich unbrauchbar.
[1] Scheunpflug 2001, S. 17
[2] vgl. Luhmann 2002
[3] Treml 10987, S.120
[4] Illich, 1970
(Artikel zuerst erschienen im Unerzogen-Magazin 2011)
Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Ulrich Klemm,
als Leiter des VHS-Verbandes,
ich gebe Englisch-Sprachkurse an der VHS Ludwigsburg. Was mich aber immer wieder frustriert, sind die langen Pausen zwischen den einzelnen Semestern. Meine Schüler, welche nur einmal die Woche kommen, durch Geschäftsreisen und Urlaube noch mehr Fehlzeiten haben, werden durch
die langen Pausen dazwischen ausgebremst. Kann man die Pausen nicht wenigstens den Schulferien anpassen, damit sind noch genügend Lücken.
Außerdem würde ich auch gerne als Vortragende an einer VHS mehr Input zu dem Thema Lernen aktualisiert zur Gehirnforschung erhalten.
Mit freundlichem Gruß
Herta Vogel