Patrick ist Lernbegleiter an einer Freien Schule in Niedersachsen. Hier berichtet er wöchentlich über seine Erlebnisse.
Demokratie an unserer Schule ist anstrengend. Sie geht über eine regelmäßige Schulversammlung hinaus, in der über die Regeln des Zusammenlebens abgestimmt wird. Demokratie ist anspruchsvoll. Alle Schüler*innen und Erwachsenen sollten über eine bestimmte Problematik wirklich Bescheid wissen, wenn sie nicht nur aus dem Bauch heraus für einen Vorschlag stimmen wollen. Sie sollten ausgewogene Pro- und Kontraargumente kennen und zum Schluss zu einem fundierten Urteil gelangen – und sich dabei möglichst nicht vom Abstimmungsverhalten des besten Freundes oder der besten Freundin leiten lassen. Demokratie ist aber auch spontan, ungesteuert, kreativ und spielerisch. Damit sie das jedoch sein kann, muss man sie ab und zu herausfordern. Man muss gelegentlich zuspitzen, mobilisieren, wütend, kreativ oder betroffen werden, streiten, miteinander sprechen, Lösungen erarbeiten und schließlich wieder zueinander finden.
„Merkball soll abgeschafft werden“
Erst dann wird Demokratie wirklich lebendig. Und erst dann finden überhaupt Lernprozesse statt. Und so hatte ich vor Kurzem das Bedürfnis, unseren demokratischen Geist an der Schule mal herauszufordern. Ich habe einen Antrag an die Schulversammlung gestellt von dem ich wusste, dass er mindestens die Hälfte der Schüler*innen fürchterlich aufregen würde: Ich habe beantragt, Merkballspiele im Hof ab sofort zu verbieten. Natürlich wird sich der*die aufmerksame Leser*in fragen, was eigentlich „Merkball“ ist. Nun, Merkball ist ein bei unserer Schülerschaft bis vor kurzem extrem beliebtes Ballspiel, welches ähnlich abläuft wie Zombieball. Es gibt drei Softbälle, mit denen sich die Mitspieler*innen gegenseitig abwerfen. Wird man getroffen, muss man das Spiel verlassen – solange, bis der*diejenige, der*die einen getroffen hat, selber abgeworfen wurde. Ein simples Spiel mit einer merkwürdigen Anziehungskraft. Seit den ersten milden Tagen im Frühjahr 2018 wurde kaum etwas anderes auf unserem Hof gespielt. Bis zu 20 Schülerinnen und Schüler aus unterschiedlichen Jahrgängen nahmen gleichzeitig teil. Manchmal dauerten Spielrunden zwei bis drei Stunden. Die Schüler*innen waren voll dabei : Sie powerten sich aus, erprobten ihre Kraft und ihr Können, stritten und vertrugen sich miteinander, stellten Regeln auf oder veränderten bestehende, nachdem diese sich als nicht mehr praktikabel erwiesen.
An manchen Tagen habe ich das Merkballspiel wie ein riesiges soziales Experimentierfeld wahrgenommen, wobei ich wirklich spannende soziale Prozesse beobachten konnte. Doch irgendwann im Herbst kippte die Stimmung. Es war zu der Zeit nur noch ein ‚harter Kern‘ von Jungs wirklich regelmäßig dabei. Und so machten sie den Vormittag über kaum etwas anderes, als sich auf dem Hof gegenseitig mit Bällen abzuwerfen. Dabei interessierte es sie kaum, ob unbeteiligte Schüler*innen oder Besucher*innen der Schule möglicherweise getroffen werden könnten. Auch gab es immer wieder Streit zwischen einzelnen Akteuren. Die anfänglichen sozialen Prozesse schienen ins Stocken geraten zu sein und die Jungs kamen nicht aus ihrer Spirale aus „Aufgekratztsein, Ehrgeiz, Niederlage und Aggression“ heraus. Wir Lernbegleiter*innen mussten permanent anwesend sein und Konflikte eindämmen – was ehrlich gesagt enorm viel Kraft und Nerven kostete. Aus dieser Beobachtung heraus wollte ich also das Merkballspielen einschränken, um den Hof wieder für andere Spiele zu öffnen. Außerdem wollte ich den Merkballspieler*innen die Möglichkeit geben. sich mal mit anderen Sachen zu beschäftigen. Vor allem war ich aber wirklich neugierig, ob die Merkballspieler*innen sich meinem Antrag in der Schulversammlung tatsächlich entgegenstellen würden.
Eine lebendige Debatte
Was nach Bekanntwerden meines Antrags geschah, überstieg meine Erwartungen. Schnell bildete sich eine starke Merkballfraktion, die bereit war, ihr Lieblingsspiel vor einem Verbot zu bewahren. Sie führten gute Argumente an und konnten einige Lernbegleiter*innen auf ihre Seite ziehen. Ich sah meinen Antrag schon gescheitert, bevor er überhaupt in der Schulversammlung verhandelt wurde. Doch ich wollte nicht aufgeben. Schlau wie ich war, warb ich insbesondere bei den älteren Schüler*innen in der Tertia (Jahrgänge 8 – 10) für meinen Vorschlag
und fand dort viele Unterstützer*innen. Hauptsächlich deshalb, weil das Merkballspiel schon immer sehr laut war. Denn die Spieler*innen scheuten sich nicht, leidenschaftlich ihren Unmut über diejenigen kundzutun, die sie abgeworfen hatten. Besonders die
Abschlusschüler*innen waren deshalb teilweise stark genervt von der Lautstärke. Sie fühlten sich in ihrem Lernen gestört. In meinem Antrag sahen sie die Möglichkeit, endlich für die in ihren Augen notwendige Arbeitsatmossphäre zu sorgen. Darüber hinaus (und dieser Grund mag vermutlich ausschlaggebender gewesen sein) spielten sie ziemlich gerne Basketball und mussten sich den Hof regelmäßig von der Merkballspieler*innen erkämpfen.
Gelebte Demokratie
Ich hatte also mit der Tertia eine zugängliche Schülerfraktion, die ich nur noch mobilisieren musste. Ich griff tief in die politische Trickkiste und erstellte ein (in mein Augen extrem gelungenes) Anti-Merkball Plakat, welches ich in der Schule verteilte. Außerdem versuchte ich, wirklich jeden Schüler und jede Schülerin in einem persönlichen Gespräch für mein Vorhaben anzuwerben. Dreiviertel der Tertia und ca. die Hälfte der Primaria (Jahrgänge 1 – 3) schien kurz vor der Schulversammlung auf meiner Seite zu sein. Doch die Gegenseite schlief nicht. Einige Schüler*innen überzeugten schnell andere Lernbegleiter*innen von der vermeintlichen Unsinnigkeit meines Antrages und mobilisierten über ihre Freundschaftskontake fast die gesamte Sekundaria (Jahrgänge 4 – 7). Ein Gegenplakat wurde erstellt. Es wurde ein spannendes Kopf- an Kopfrennen.
Neben diesem sportlichen Wettkampf um die Zustimmung der Schüler- und Lehrerschaft fanden in den drei Wochen, in denen der Antrag in der Schule für Aufruhr sorgte, eine Reihe spannender Prozesse statt. Plötzlich schien die gesamte Schule extrem politisiert. Überall, wo ich lang ging, wurde über den Antrag gestritten und Argumente ausgetauscht. Ich wurde ständig von Schüler*innen gefragt, aus welchen Gründen ich denn nun Merkball abschaffen möchte. Häufig wurden mir Gegenargumente um die Ohren gehauen. Trotz kleinerem Schabernack (Ich wurde von der Merkballfraktion plötzlich nur noch ‚Paprika‘ genannt – quasi eine Trotzreaktion auf meinen Antrag) blieb die Stimmung erstaunlich cool und gelassen. Die unterschiedlichen Fraktionen gingen nicht verbal oder körperlich aufeinander los, sondern tauschten im meist sachlichen Ton verschiedene Argumente aus.
Ein kluger Kompromiss
So waren alle Teilnehmer*innen in der Schulversammlung sehr gut vorbereitet, als mein Antrag endlich verhandelt wurde. Circa ein Viertel der Schüler*innen kam in die Versammlung – leider erwies sich meine sicher geglaubte Anti-Merkball-Primaria-Fraktion als unzuverlässig und blieb der Versammlung fern; ähnlich wie ein paar Tertianer, die an dem Vormittag mit ganz anderen, wichtigeren Sachen beschäftigt waren. Die Sekundaria war stark vertreten und lies mich sogleich am Erfolg meines Vorhabens zweifeln. Die Diskussion um den Antrag war aber erfreulicherweise sehr ausgeglichen. Ich hatte doch mehr Unterstützer*innen, als anfangs befürchtet. Und wie es sich für ein funktionierendes demokratisches Gemeinwesen eigentlich gehört, haben wir am Ende keine Kampfabstimmung zu verschiedenen Anträgen und Gegenanträgen geführt, sondern einen Kompromiss ausgearbeitet, mit dem alle gut leben konnten: Ab sofort darf nur noch anderthalb Stunden am Tag auf dem Hof Merkball gespielt werden. Die Abschlussschüler*innen haben nun mehr Ruhe, die Lernbegleiter*innen müssen weniger präsent sein und schlichten. Die Spieler*innen können auch anderen Sachen nachgehen, brauchen auf ihre Lieblingsbeschäftigung jedoch nicht vollständig zu verzichten.
Für mich waren es drei sehr intensive und teilweise anstrengende Wochen des Debattierens und Überzeugens. Es stimmt also: Demokratie an unserer Schule ist anstrengend. Demokratie an unserer Schule ist aber vor allem eines: lebendig.
Hier geht es zu Patricks letztem Artikel: Von jemandem, der auszog, um Chancengleichheit zu fordern.