Perversion der Pädagogik

Co-Autor: Pascal Kihm

Stellen wir uns vor, Svenja läge müde und erschöpft zu Hause im Bett, dann würde ihre Mutter vermutlich mit der Hand an die Stirn ihres Kindes greifen, um zu erfühlen, ob es Fieber hat. Das könnte ja schließlich erklären, weshalb sich Svenja so krank fühlt. Weil die Mutter nach dem Erfühlen immer noch unsicher ist, greift sie als nächstes zum Thermometer, um die Körperkerntemperatur zu messen und entsetzt festzustellen: „40 Grad!“

Im Prinzip passiert bei dieser Heimdiagnose nichts anderes als bei der schulischen Leistungsbewertung durch Noten: Es wird ein numerischer Wert ermittelt, der mit anderen in Beziehung gesetzt wird, um daraus zu schließen, ob die Leistung eines Faches dem Durchschnitt möglicherweise exakt entspricht oder aber über oder unter diesem liegt (vgl. Ladel, 2010 bzw. Brügelmann, 2011).

Ähnlich wie das Thermometer, welches die Ursachen und Therapiemöglichkeiten des Fiebers nicht kennt, scheitern auch die Zensuren auf dem Zeugnis daran, die Ursache für beispielsweise die Leistung im Fach Physik zu erklären oder als Ausgangsmaterial einer systematischen Förderung zu dienen.

Somit verfehlt die notenbasierte Leistungsfeststellung das Grundziel inklusiven Unterrichts, nämlich eine optimale Förderung des Einzelnen zu gewährleisten (vgl. Al-Hashimy, 2012).

Noten lassen also keinen wirklich zuverlässigen Rückschluss auf das Zustandekommen einer Schülerleistung zu, diese wird nicht erklärt oder ausdifferenziert. Woher kommen diese Noten, und was können Schüler tun, um sie zu verbessern? Und wie können Eltern und Lehrer sie darin unterstützen?

Auf all diese Fragen liefert eine Ziffernnote allein auf dem Jahreszeugnis oder unter einer Klassenarbeit keine Antwort. Trotzdem wird sie von der Gesellschaft als tragender Maßstab verwendet.  

Noten versprechen zwar eine hohe Übersichtlichkeit, sind jedoch wenig vergleichbar: „Sie sind informationsarm, sagen nichts über den Lernprozess aus und übernehmen primär eine Selektionsfunktion“ in einer Gesellschaft, die vorgibt, inklusiv zu leben (ebd., S. 221). Letztendlich geht es aufgrund der Notengebung wieder nur um einen Bildungswettbewerb, der den Inklusionsgedanken zerstört und buchstäblich zur institutionellen Diskriminierung einlädt. Dabei liegt die Variationsbreite in Bezug auf Objektivität und Reliabilität bei bis zu zwei Notenstufen(vgl. Ingenkamp & Lissmann, 2005, S. 151f.). Kinder aus Ländern, die auf das Selektionssystem Ziffernnoten verzichtet haben, lernen nachweislich wirksamer und effektiver (vgl. Al-Hashimy et al., 2012, S. 221). Reine Ziffernnoten wirken sich nachteilig auf die intrinsische Lernmotivation der Schüler aus (vgl. ebd., S. 221): Statt anzuspornen oder zu motivieren, lösen sie Ängste aus oder begünstigen soziale Isolation. Sie setzen Lernende massiv unter Druck und brennen sich als (eventuell aus eigener Kraft heraus nicht vermeidbarer) Misserfolg ein.

Zusätzlich muss man sich bewusst machen, dass die Ziffernnoten im auslaufenden achtzehnten Jahrhundert des wilhelminischen Deutschlands eingeführt wurden, um möglichst homogene Gruppen unterrichten zu können und mögliche leistungsschwache Personen von vornherein auszusortieren – für sie war im Denken der Leistungsgesellschaft des 19. Jahrhunderts kein Platz. Leider halten wir heute immer noch an diesem – nicht aus pädagogischen Gründen eingeführten – Ausleseinstrument fest und verfolgen damit aber sarkastischerweise pädagogische Ziele (z.B. sprechen wir von Motivations- oder Disziplinierungsfunktion, vgl. auch Peschel, 2015), selbst in heterogenen Gruppen!

Aus den bisherigen Zeilen sollte unsere klare Position bezüglich Ziffernnoten nun klar geworden sein:

Wir halten sie definitiv für das falsche Mittel, um Kindern eine gerechte, entwicklungs- und lernförderliche, prozessbezogene und vergleichbare Rückmeldung zu geben.

Ausschlaggebend ist zudem, dass bei der Notengebung (und leider bei vielen Formen der Bewertung) vielfach nur punktuelle Leistungsmessungen berücksichtigt werden – die Ganzheitlichkeit des Verstehens und Lernens wird zugunsten der Gedächtniskapazitäten vernachlässigt: Stattdessen müssen (außer den Klassenarbeiten) auch Schülerprodukte, Lernprozesse und vielfältige Erfahrungen und Beobachtungen in die Leistungsbeurteilung miteinfließen, aber ohne dabei den Eindruck zu hinterlassen, es wird plötzlich alles und zu jeder Zeit bewertet! In letzterem Fall ist die Gefahr zu groß, dass nicht mehr intrinsisch, sondern nur noch für die Beurteilung des Lehrers gearbeitet wird.

In diesem Sinn spielt für uns auch die Selbstbeurteilung der Heranwachsenden eine entscheidende Rolle: Es interessiert uns sowohl, wie sie ihre eigenen Produkte und Lernprozesse (sowie -erfolge) einschätzen als auch, welchen Eindruck sie von den Leistungen ihrer Mitlernenden haben. Somit wird der Prozess der Leistungsbeurteilung in Gesprächen bewusst reflektiert und hinterfragt, um im Austausch ein genaues Gefühl für das faire Bewerten von Leistungen zu entwickeln: „Das Konkurrenzdenken […] lässt nach, während die qualitative Auseinandersetzung mit den erbrachten bzw. geforderten Leistungen zunimmt“ (Al- Hashimy, 2012, S. 223). Aus diesen Gründen würden wir am liebsten gänzlich auf das Geben von Zensuren als Mittel der Leistungsbeurteilung solch unterschiedlicher Kinder verzichten. Eine Alternative sehen wir in sogenannten Lernentwicklungsberichte, die helfen, die schulischen Anforderungen dem individuellen Lernen der Kinder und ihren Leistungsmöglichkeiten anzupassen. Eine Lernzielorientierung wird auf diese Weise gefördert, indem mehr intra- als interindividuelle Vergleiche vollzogen werden. Da Lernen in sozial-interaktiven Kontexten der Kooperation geschieht, ist es mir besonders wichtig, den Lernprozess auch in den Mittelpunkt der Bewertung zu stellen, weshalb sich prozessbezogene sowie gemeinschaftliche Formen der Leistungsmessung ausdrücklich empfehlen (vgl. Winter, 1999, S. 70).

Das führt uns zurück zur Fiebermetapher der Einleitung: Nehmen wir mal an, Svenjas Mutter ist nach dem ersten Temperaturmessen mit ihrer Tochter zum Arzt gegangen, der weiterführende Untersuchungen angestellt hat, um herauszufinden, dass sie kein kontinuierliches oder intermittierendes Fieber hat, sondern eine speziellere Ausprägung: das doppelgipflige Fieber. Mit dieser Diagnose, die mit genauer Ursache versehen ist, erhalten die Patienten auf dem Arztbrief zusätzliche Therapiehinweise (z.B. Quark- Wadenwickel). Wir fragen uns, weshalb wir in Bildungssituationen nicht ähnlich vorgehen, sondern dort oftmals den einfachsten und schnellsten Weg bevorzugen.

Lernberichte, -gutachten und Verbalzeugnisse stellen für uns das Pendant zum metaphorischen Arztbericht dar.

 

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