Kolumne, Teil IV

Neun Schulen. Ein Monat. Tabea erzählt von der Summer Tour 2018

Ich bin fertig. Die letzten Wochen schlauchen ganz schön. Jeden Tag neue Menschen, neue Eindrücke, neues Wissen. Das ist anstrengend. Ich beschäftige mich 24/7 mit dem Thema Schule. Ich schlafe in den Schulen. Ich sehe nur noch Schule. Mein Leben ist nur noch Schule.

Die Reise fühlt sich an, als würde ich Zelten. Jeden Tag baue ich ein neues Zelt auf, um es dann  wieder abzureißen. Jeden Tag breite ich meinen Schlafsack aus, um ihn dann wieder einzupacken. Jeden Tag brauche ich all meine Energie, um Abends müde auf die Isomatte zu fallen.

Das mit der Anstrengung merke ich besonders an Tagen, an denen keine Schule ist — an denen kein Adrenalin in den Adern steckt. Ich bin müde, obwohl ich lange geschlafen habe. Mein Kopf ist nicht so wach, wie er sein sollte.

Ich bin an der nächsten Schule in Holland – LOS Deurne. Mittwochs ist hier immer schulfrei. Zwischenpause. Das tut mal gut. Mitten in der Woche einen Tag frei: So können sich die Kinder ausruhen. Vor allem die Erwachsenen. Und ich mich heute auch.

Eine Lernbegleiterin erklärt ihre Sicht während der soziokratischen Schulversammlung.

In Deurne, nahe Eindhoven, haben vor knapp anderthalb Jahren fünf Mütter eine soziokratische Schule gegründet. Soziokratie ist eine Form von Demokratie. Hier zählt nicht, was die Mehrheit sagt. Hier zählt jede Stimme.Jedem soll zugehört werden. Jeder soll seine Stimme äußern – egal, wie beliebt oder bekannt. Es gibt keine Abstimmung, sondern eine Suche nach Konsens. Man sucht solange nach Kompromissen bis jeder damit leben kann.

Das alte Bauernhause von außen

Die Schule befindet sich in einem alten Bauernhaus. Hier war vorher mal ein Restaurant und eine Bar, die insolvent gegangen ist. Die Wände sind durch dunkle Holzbalken gestützt. Alles ist in warmen, dunklen Holztönen gestaltet. Es riecht nach Heimat, Vergangenheit und Geheimnis. Jedenfalls nicht wie eine Schule. Für die fünf Mutter war das perfekt. Per Zufall sind sie an das Haus gekommen. Sie hatten nach einer Location gesucht, die nicht nach Schulalltag aussieht.Ein Ort für Herz und Seele soll ihre Schule sein. Deshalb nennen sie ihre Schule auch nicht Schule — sondern natürliche Lernumgebung. Übersetzt heißt LOS: Lernen, Entdecken, Spielen.

An der ehemaligen Bar werden jetzt eigenständig Chemie-Experimente gemacht.

Es ist Donnerstag. Eine Vierjährige kommt zu ihrem ersten von zwei Probetagen. Sie schaut sich die Schule an, um zu sehen, ob die Schule für sie in Frage kommt. Ob sie sich vorstellen kann, hierhin zu gehen. Die Eltern würden extra für sie und ihre Schwester nach Deurne ziehen. Damit ihre Kinder in dieser Lernumgebung lernen und leben können.

Ich beobachte sie. Linda ist klein und wie ich finde, sehr süß, schüchtern. Sie ist still. Schaut den Anderen leise zu. Macht mit. Aber ja nicht zu auffällig.

Linda schneidet mutig die Pilze für die Suppe

Heute wird in der Schule Champingnon-Suppe gekocht. Linda hat die Aufgabe, die Champignons klein zu schneiden. Sie bekommt ein Messer in die Hand gedrückt. Genau gezeigt, wie die Champignons am besten geschnitten werden. Und dann schneidet sie. Ruhig. Langsam. Vorsichtig. Ordentlich. Geduldig. Mit einem Messer, bei dem die meisten Mütter aufschreien würden, wenn sie es in der Hand ihres kleinen Kindes sähen. Die Lernbegleiterin steht daneben. Sie entfernt Kirschkerne aus den Kirschen. Vertraut Linda voll und ganz. Zwinkert mir zu.

Linda hat zuende geschnitten. Jetzt turnt sie mit den Anderen auf dem Matratzenlager. Rennt ihnen hinterher. Klettert hoch. Lacht. Als sie sieht, wie ein älteres Mädchen am Klavier spielt, setzt sie sich daneben und versucht das andere Keyboard daneben zu spielen. Sie drückt einzelne Tasten. Beobachtet aufmerksam, wie das Mädchen sie bewegt. Lauscht der Melodie. Als das Mädchen aufhört, hört auch sie auf zu spielen. Weiter geht’s!

Der rosane Prinzessinnenrock einer Schülerin hat Linda schwer beeindruckt.

Es ist Freitag. Ich muss schmunzeln. Linda trägt heute einen pinken Prinzessinenrock. Den hatte gestern ein anderes Mädchen in ihrem Alter auch getragen. „Heute morgen hat sie sich ganz selbstständig angezogen“ erzählt mir ihre Mutter beim Abholen. Der Prinzessinenrock hat ihr wohl so imponiert, dass sie ihn direkt auch mal anziehen wollte.

Ich denke an eine Psychologie-Vorlesung zurück. Lernen am Modell von Bandura. „Lernen neuer Verhaltensweisen anhand der Beobachtung eines Modells dessen Verhalten sofort oder später nachgeahmt wird; Tritt oft in Situationen auf, in denen  kein Lernen zu erwarten ist.“ Ein perfekteres Beispiel aus dem Leben könnte ich wohl kaum finden. Genau das ist es doch, wofür Freie Schulen stehen. Hier denkt man von außen oft nicht, dass gelernt wird. In Wirklichkeit ist der Lerninhalt aber viel größer und intensiver als gedacht.

Für solche Erlebnisse halte ich gerne noch länger durch. Dafür baue ich gerne Zelte auf und ab. Dafür gebe ich gerne tagtäglich alles. Sodass ich noch mehr Schulen kennenlerne. Noch mehr Eindrücke sammle. Und noch mehr und mehr er-fahre.

2 Antworten

  1. Ich musste beim Lesen abrupt innehalten und einen Kommentar verfassen, bevor ich weiterlese.

    Zitat: »Ein Ort für Herz und Seele soll ihre Schule sein. Deshalb nennen sie ihre Schule auch nicht Schule.«

    Ich finde es mindestens des Bemerkens wert, wenn wir eine wirkliche Schule nicht mehr Schule nennen, weil eine andere Institution, die keine Schule ist, sondern eine Belehrungs- und Erziehungsanstalt, diesen Begriff für sich gebraucht. Man muss wohl besser sagen, missbraucht. Das Wort Schule hat seinen Ursprung im griechischen Wort »schole«. Ich überlasse es jedem selbst, die Bedeutung des Wortes zu ergründen. Jedenfalls wurde es ursprünglich für einen Ort verwendet, an dem man jenseits des anstengenden Alltags in Ruhe über verschiedene Dinge nachdenken konnte.

    Ähnlich, wie mit dem Wort »Schule«, geht es mir mit dem Wort »Lernen«. Auch so ein Begriff, der von den Insassen oben genannter Institution missbraucht wird. Belehrung ist nicht Lernen; so wie Erziehung nicht Beziehung ist.

    Ich wünsche Dir Durchhaltevermögen
    Matthias

    1. Matthias, danke für dein abruptes Innehalten! Ich glaube, dass wir die Schuld der negativen Assoziation Schule nicht nur auf Institutionen schieben können. Ich glaube, dass oftmals wir selber – wir als Gesellschaft – Schuld sind. Schon bevor man eingeschult wird, bekommt man von vielen Älteren gesagt, wie blöd doch Schule sei. Dass das Lernen dort keinen Spaß macht. Wie sollen Kinder da überhaupt mit einem offenen Herzen in die Schule gehen, wenn sie schon mit so einem „negativen Bild“ vorgeprägt sind?

      Deswegen bin ich Teil von Schools of Trust. Schule und Lernen brauchen einen Imagewechsel.
      Und so versuche ich mich selber momentan in meiner Klausurphase stets daran zu erinnern, dass es doch eine Freude und ein Privileg ist, viel lernen zu können. Fällt mir aber nicht leicht.

      Liebe Grüße
      Tabea

      P.S.: Danke für deine Inspiration mit der Wortherkunft. Lateinisch kann Schule als „freie Zeit“ übersetzt werden. Spannend! Darauf werde ich bestimmt mal in einem Beitrag zurückkommen…

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