Inklusive Bildung an Demokratischen Schulen

Wo lassen sich zwischen dem allgemeinen Verständnis von Demokratischen Schulen Übereinstimmung und Vernetzungsmöglichkeiten zum inklusiven Verständnis, in Anlehnung an den Index für Inklusion, aufzeigen? Beide Ansätze sind sich in ihrer Ausrichtung sehr ähnlich. Beide Bewegungen sind wegweisend für neue Lernmöglichkeiten und -erfahrungen innerhalb von Schule.

Kinder und Jugendliche auf ihrem Entwicklungsweg zu begleiten und mit ihnen eine freudvolle Lernbiografie zu gestalten, liegt in der Verantwortung einer Gemeinschaft von Eltern und Menschen, denen Kinder in Bildungseinrichtungen anvertraut werden. Ich habe diese Verantwortung bewusst übernommen und empfinde Spaß und Freude im Erleben und Lernen mit Kindern und den vielfältigen Möglichkeiten, mit ihnen persönlich und gemeinschaftlich zu wachsen.

Wertschätzende Umgangsformen als Ausdruck inklusiver Kulturen

Es braucht Feingefühl, Engagement und Offenheit für authentische und einfühlsame Beziehungsgestaltungen von Erwachsenen zu Schülern. Die Qualitäten des Herzens von Liebe, Güte und Mitgefühl spielen in der Lernbegleitung ebenfalls eine entscheidende Rolle. Kinder lernen bedürfnisorientiert, das braucht ein ganzheitliches Verständnis für ihren Entwicklungsweg. Ihre zahlreichen Kompetenzen ermöglichen es ihnen, sich die Welt explorativ anzueignen. Sie folgen ihren Bedürfnissen und besetzenLerninhalte emotional. Kinder werden mit großer Weisheit geboren. Was ihnen in jungen Jahren jedoch noch fehlt sind praktische Lebenserfahrung, ein Überblick über die Dinge der Welt sowie die Fähigkeit vorauszudenken. Um diese Kompetenzen zu erlangen und die jeweilige Kultur kennenzulernen, brauchen sie Erwachsene, die ihnen respektvoll begegnen und sie ganzheitlich stark machen. Das Ziel ist, dass sie später als Erwachsene an demokratischen Gesellschaftsprozessen autonom, verantwortungsvoll, kreativ sowie proaktiv teilnehmen. Proaktiv bedeutet, dass sie sich zu Menschen entwickeln, die für ihre eigenen Werte und Ziele einstehen und nach diesen handeln, statt nur auf Situationen zu reagieren.

In der internationalen Schullandschaft existieren Schulen, die diese Kompetenzen bei Schülern und Schülerinnen durch ein basisdemokratisches Selbstverständnis unterstützen und ausbilden. In Demokratischen Schulen gilt der Grundsatz »Ein Mensch, eine Stimme«.
Schüler und Lernbegleiter entwickeln und verhandeln Schulregeln, Konsequenzen bei Verstößen und bedürfnisorientierte Lernmöglichkeiten dialogisch. Sowohl Pädagogen als auch Schüler setzen sich aktiv für die Einhaltung von Verabredungen ein. Um sich bedürfnisorientierte und interessengeleitete Lerninhalte erschließen zu können, sorgen sie gemeinsam dafür, dass entsprechendeMaterialien und Fachkompetenzen zur Verfügung stehen. Alle Kinder kommen darüber zu ihrem Recht auf Bildung, wie es über die Menschenrechte, das Grundgesetz sowie über die UN-Kinderrechtskonvention gesetzlich verankert ist. Diese Gesetzesgrundlagen werden von der UN-Behindertenrechtskonvention ergänzt. Diese verpflichtet jede Schule, allen Kindern, unabhängig ihrer individuellen Voraussetzungen, Zugang zu allen freiverfügbaren Bildungsressourcen zu ermöglichen und ihre Teilhabe daran zu erhöhen. Es wird von Schulen ein inklusives Grundverständnis gefordert, um der Vielfältigkeit der Gesellschaft begegnen zu können. Darin steckt ebenfalls die Aufforderung, inklusive Lebens- und Lernsituationen zu fokussieren, um Gemeinsamkeiten und verbindende Momente zwischen Menschen sichtbar zu machen. (Schul)Gemeinschaften, die nach einer Pädagogik mit demokratischen als auch inklusiven Werten und Zielen arbeiten – partizipative, demokratische und dialogische Lern- und Entwicklungskultur für Teilhabe, Teilnahme und Teilgabe aller – können zu einer positiv wertebasierten Welt beitragen. Vereinbarte Werte innerhalb einer Schulgemeinschaft bilden somit die Basis für gemeinsames Handeln.

Demokratischer Schulalltag als Ausdruck inklusiver Schulstrukturen

Strukturen einer Bildungseinrichtung bauen auf ihrer Kultur auf und schaffen strukturelle Möglichkeiten, dass alle Menschen an den Angeboten partizipieren können. Vielfältiges Lernen findet statt, indem Unterstützung für die unterschiedlichsten Bedarfe organisiert wird. So zum Beispiel, wenn Schüler mit Beeinträchtigungen eine Schule besuchen und spezielle Unterstützungssysteme für ihren erfolgreichen Lernprozess brauchen. Diese Kinder und Jugendliche geben Impulse für Innovationen und kreative Herangehensweisen für Veränderungen der Schulstruktur und ihrer inklusiven Weiterentwicklung. An Demokratischen Schulen wird den Lernbedürfnissen nach gemeinschaftlicher und individueller Entwicklung selbstbestimmt begegnet. Es gibt das Mentorenprinzip. Nach diesem können sich die Schüler einen Bezugserwachsenen selbst aussuchen, diesen aber auch flexibel wechseln. Eine feste und verbindliche Klassen- oder Lerngruppenzuordnung gibt es nicht. Die Schüler wählen ihre Lernpartner und entsprechend Bezugsgruppen immer interessengeleitet.

Die Organisation von Lerngruppen erfolgt an den verschiedenen Demokratischen Schulen jedoch unterschiedlich.Dem Aspekt der Partizipation aller Beteiligten am Schulleben wird an Demokratischen Schulen ein hoher Stellenwert zugeschrieben und in festgesetzten und verbindlichen Komitees praktisch umgesetzt und gelebt. Die verschiedenen Komitees setzen sich aus Personen unterschiedlicher Altersgruppen zusammen, wodurch unterschiedliche Sichtweisen und Bedürfnisse Berücksichtigung finden sowie vertreten und verhandelt werden. Hierin wird ein inklusiver Moment deutlich, der von Wertschätzung für alle Anliegen in dialogischem Austausch geprägt ist. Offen bleibt für mich an dieser Stelle, wie Demokratische Schulgemeinschaften mit Schülern im Justizgremium umgehen, die aufgrund persönlicher Dispositionen deutliche Schwierigkeiten im Schulalltag und/oder im sozialen Umgang aufzeigen und sich ggf. wiederholend Beschwerden zu stellen haben?

Welche Herausforderungen werden darüber auch an die gesamte Schulgemein-schaft gestellt? Welche Unterstützung und Nachsicht erfahren diese Schüler und Schülerinnen in den gemeinsamen Verhandlungen? Und werden sie vor Ausschluss geschützt? Verhandelte Konsequenzen richten sich nicht gegen die Person, sondern gegen die konkrete Handlung der Person. Das spricht für einen inklusiven Ansatz, wodurch die Würde und Identität der Person respektiert wird, da nur ein konkreter Teilaspekt aufgegriffen wird.

Ganzheitliches Lernverständnis als Ausdruck inklusiver Schulpraktiken

Die Praktiken, also der tatsächliche Umgang miteinander, spiegelt die gelebten Werte der Schulkultur und die vereinbarten Strukturen wider. Inklusive Praktiken versuchen verschiedenste Lernarrangements zu organisieren und notwendige Ressourcen zu mobilisieren, die gemeinsames und individuelles Lernen ermöglichen. Lernen ist ein aktiver und interaktiver Prozess der Weltaneignung, der sich an lebensbedeutenden Ereignissen und Gegebenheiten ausrichtet. Dass darüber Persönlichkeitserfahrungen sowie persönliche Entwicklungen vorangebracht werden, steht im Sinne sowohl eines inklusiven als auch demokratischen Verständnisses. An dieser Stelle möchte ich ebenfalls den Fakt aufgreifen, dass im 21. Jahrhundert der Kompetenzerwerb im Vordergrund des Lernprozesses steht. Kompetente Menschen sind in der Lage mit Wissen reflexiv umzugehen und Lernprozesse bewusst zu steuern. Die strategische Herangehensweise an Aufgaben und die Verknüpfung von Lerninhalten ist dabei bei jedem Menschen einzigartig. Deshalb braucht es flexible Rahmenbedingungen, um diesen Verschiedenheiten gerecht zu werden, denn Lernen ist viel mehr als ein kognitiver Prozess! Lernen ist alles, was uns emotional berührt, körperlich herausfordert, sensorisch beeinflusst und sozial verbindet. Jeder Mensch lernt jeden Tag, bewusst oder unbewusst. Dabei ist Lernen ein konstruktiver Prozess, bei dem sich der Mensch mit seiner gesamten Identität als soziales Wesen einbringt.

Die Motivation hinter selbstgesteuerten und selbstorganisierten Lernprozessen ist von praktischem Interesse, nämlich die eigene Handlungsfähigkeit zu erweitern und Freude der Selbstwirksamkeit

und Selbstverwirklichung zu spüren. In sozialen und auf dialogischen Austausch
basierende Interaktionen erweitern und erproben erworbene Handlungskompetenzen. Über diese werden Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie Wissen inter- und intrapersonal wiederholend abgeglichen und ggf. modifiziert. Das Verständnis, dass Menschen für ihre eigene Lernbiografie selbstverantwortlich sind, wird stärker vom demokratischen Ansatz vertreten. Nach inklusiven Ansatzpunkten wird darin den Pädagogen eine entscheidende Rolle zugeschrieben. Sie haben dafür Verantwortung zu tragen, Kindern individuelle Bildungs- und Unterstützungsangebote anzubieten und aufzubereiten. Individuelle Lernbedürfnisse von außen wahrzunehmen und zu gestalten ist ein sehr hoher Anspruch in der inklusiven Schulpraxis. Demokratische Schulen setzen diesbezüglich ein sehr hohes Vertrauen in die Lernentwicklung der Schüler. Lernbegleiter unterstützen zum gegebenen Zeitpunkt die Schüler und Schülerinnen. Das demokratische Lernverständnis sieht die Verantwortung im Lernenden, der Subjekt seines eigenen Lernweges ist. Demnach wissen Lernende für sich selbst am besten, was für ihre nächsten Entwicklungsschritte notwendig ist. Erwachsene stehen ihnen nach gezielter Aufforderung begleitend und unterstützend zur Seite. Damit wird den Schülern eine hohe
Kompetenz in der Selbstwahrnehmung und -verantwortung ihrer Lernbedürfnisse zugesprochen. Beim Herausfinden dieser gehen Pädagogen an Demokratischen Schulen sehr behutsam um, um die Schüler nicht in Bedrängnis zu bringen und damit in ihren Entwicklungsprozess einzugreifen. Hier zeigt sich eine sensible Gratwanderung zwischen Unterstützung und Begleitung. Es braucht einfühlsame Erwachsene, die aus einer empathischen und intuitiven Haltung heraus Schüler im Lernen begleiten.

Gestaltung integrativer Prozesse auf allen Ebenen

Jeder Mensch braucht unterschiedliche Bedingungen, um erfolgreich Lernprozesse zu erfahren sowie die Wertschätzung der Gemeinschaft für seine vielfältigen Identitätsaspekte. Herauszufinden, was Schüler und Schülerinnen brauchen, bedarf einer aktiven Beziehungsgestaltung und die Zeit einander kennenzulernen. Sich für inklusive Bildung einzusetzen bedeutet auch an Demokratischen Schulen, sich für Bildungsgerechtigkeit zu entscheiden und den Zugang zu Lernressourcen allen Schülern zu ermöglichen. Im Ansatz der inklusiven Bildung zeigen sich deutliche Übereinstimmungen in den Grundhaltungen der Umgangsformen und dem Lernverständnis an Demokratischen Schulen.

Es werden die Vielfalt und die damit verbundene Komplexität bei der Gestaltung von Lernarrangements in den Blick genommen. Orientieren sich Demokratische Schulen am Inklusionsverständnis birgt das insbesondere ein strukturelles Entwicklungspotential, vor allem wenn Schüler enge Unterstützungssysteme für ihr Lernen benötigen. Eine Ausbalancierung und Reflexion bestehender Rahmenbedingungen ist für Entwicklungsprozesse immer wieder notwendig. Andreas Hinz, der im pädagogischen Kontext Integrations- und Inklusionsprozesse wissenschaftlich erforscht und beschreibt, formulierte bereits 1993 eine Theorie der integrativen Prozesse. Diese Theorie »stellt einen offenen Rahmen bereit für Reflexion von Prozessen und ermöglicht Korrekturen an pädagogischen Arrangements ohne zu definieren was ›richtig‹ und ›falsch‹ ist«. Er beschreibt darin fünf Ebenen, die Orientierung für Entwicklungsprozesse geben. Demokratische Schulen zeigen über ihre Schulorganisation mit verschiedenen Komitees eine hohe Bereitschaft, sich gemeinschaftlichen als auch individuellen Anliegen zu widmen. Um hierbei synergetisch voranzukommen, kann die Ebene des interaktionellen Prozesses betrachtet werden. Demnach erfolgen idealerweise Auseinandersetzungen und Verhandlungen auf der Grundlage eines dialogischen Austauschs. Damit geht einher, dass weder Symbiose noch Distanzierung zwischen den Gesprächspartnern angestrebt wird. Auf dieser Ebene können sich der Ansatz der inklusiven und der Demokratischen Bildung begegnen und einen Dialog zu gestalten, der sich die Stärken des jeweils anderen bewusst macht und diese als Anregung für eigenes Wachstum und für Veränderungen annimmt.

Zuerst veröffentlicht in www.unerzogen-magazin.de

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