Kolumne, Teil VI
Acht Schulen. Ein Monat. Tabea erzählt von der Summer Tour 2018
eine persönliche, kritische Auseinandersetzung mit Freien Demokratischen Schulen
„Du wirst ja echt zur Werbefachfrau für Freie Demokratische Schulen.“ schreibt mir mein Vater zu meinen letzten Artikel. Seine nächste Frage: „Gibt es nichts Kritisches?“
Doch. Gibt es.
Die zweite Hälfte der Reise hat begonnen. Fünf Schulen sind besucht. Drei Schulen kommen noch. Eine Gelegenheit, um den kritischen Gedanken mal freien Lauf zu lassen. Kritische Gedanken, die ich nicht empirisch belegen kann, sondern die aus meinem Bauch kommen.
Ich möchte vor allem auf drei Punkte eingehen. Dabei will ich beide Seiten beschreiben. Damit Du Dir Deine eigene Meinung bilden kannst.
1. Fremdspachen lernen ohne Commitment? Unmöglich.
Beobachtung: Fremdsprachen stehen wie in jeder Schule auch an Freien Schulen auf dem Programm. Es gibt Angebote, zu denen man hinkommen kann. Da heißt es z. B. Englisch für Fortgeschrittene oder Japanisch für Anfänger. Oft ist es so, dass es „Sprach-Spezialisten-Lernbegleiter“ gibt. Zu ihnen können die Schüler immer kommen und einen Termin zum Lernen ausmachen. Oft bieten sie auch zu bestimmten Zeiten ein Lernangebot an. Jede Sprache soll möglich sein, zu lernen. Wenn ein Schüler Tschechisch lernen will, dann wird versucht, einen Tschechisch-Lernbegleiter zu finden. Und so weiter.
Kontra: Ich erlebe nur sehr wenige Schüler, die sich wirklich Woche für Woche hinsetzen und eine Sprache lernen. Sprache lernen ist schwer. Umso schwerer, wenn man das nicht regelmäßig tut. Bei mir funktionierte Vokabellernen, wenn ich einen Test schreiben musste. Wenn ich Leistungsdruck hatte. Wie kann ein Kind in einer Sprache besser werden, wenn es nicht regelmäßig Vokabeln lernt? Wie kann ein Schüler die Tiefen der Grammatik nicht vergessen, wenn er sich nur einmal im Monat mit ihr beschäftigt? Wie kann ein Jugendlicher die Aussprache lernen, wenn er selbstständig mit einem Buch lernt, aber nie selber spricht?
Und außerdem ist das Gehirn besonders in jungen Jahren sehr aufnahmefähig für Sprachen. Wird diese Aufnahmefähigkeit vielleicht vergeudet, wenn das Kind erst im späten Alter aus sich heraus dieses Interesse gewinnt?
Pro: Kinder lernen durch ihre intrinsische Motivation. Wenn sie die Notwendigkeit begreifen, etwas zu lernen, dann werden sie das tun. Wieviele Leute können denn nach ihrem Abitur wirklich Französisch? Und wie sieht dieser Französischkenntnisstand 10 Jahre danach aus? Denken wir mal selber an unsere eigene Schulzeit. Wie oft war es der Fall, dass man im Unterricht sitzt, aber eigentlich viel lieber was anderes tun würde. Demnach ist unsere Aufmerksamkeit und unser Wille zu lernen nicht sonderlich hoch. Ist es da nicht dann effizienter, ab und zu eine Stunde zu haben, in der man sich intensiv mit der Sprache auseinander setzt? Heißt Französisch Unterricht haben auch wirklich lernen?
Ein Französisch-Lernbegleiter erzählt mir: „Mir ist es wichtig, dass die Schüler eine positive Assoziation mit dem Fach beibehalten. Wenn sie später als Erwachsene Lust haben Französisch zu lernen, dann sollen sie das tun. Ich glaube, wenn wir die Schüler zum Lernen zwingen, dann entsteht diese Lust, diese intrinsische Motivation nicht nochmal neu.“ Was ist also nachhaltig?
2. Grenzenlose Mediennutzung in der Schule!?
Beobachtung: An mehreren Schulen, die wir besucht haben, gab es keine beschränkte Mediennutzung (an einigen Schulen aber schon!). Folge: Viele Kinder, insbesondere ab ca. 10-12 Jahren haben einige Stunden des Schultags mit ihrem Handy verbracht. Schauten Youtube Videos, waren auf Instagram, tobten sich auf Whatsapp aus. Mir kam es so vor, als ob nur Ausnahmen etwas „Vernünftiges“ am Handy machten.
Kritik: In der Schule soll gelernt werden. Was lernen Kinder, wenn sie Bibis-Beauty-Palace anschauen? Dass sie ihren neuen mega fluffig super süß riechenden Beauty-Bade-Schaum kaufen sollen? Dass sie ihr den pinken Pfannkuchen mit Schweinekopf nachbacken sollen? Gehen Kinder in dieser Fantasiewelt nicht verloren? Verlieren sie dort nicht den Draht zum wahren Leben? Was lernen Kinder, wenn sie sich auf sozialen Medien den ersten Platz in dem Kino der Highlights der Anderen sichern?
Die Lebenszeit, die ins Smartphone gesteckt wird, könnte doch so gut auch an anderen Stellen genutzt werden. Zum Nähen, zum Spielen, zum Fahrradfahren. Kann es nicht sein, dass Kinder später diese „vergeudete Lebenszeit“ bereuen? Wenn sie zum Beispiel nicht wissen, was sie später mal werden wollen, weil sie kaum andere Talente außer Zocken ausgelebt haben?
Handys haben einen suchtmachenden Charakter. Das ist ein Fakt. 3 Stunden verbringen wir am Tag durchschnittlich mit ihnen. Handys haben einen Sog, vor dem sich kaum einer schützen kann. Brauchen wir da nicht auch Regulationen von außen, wenn der Mensch doch gar nicht so frei und autonom ist, wie er sich fühlt?
Pro: Was ist gesund? Meine Eltern waren in meiner Kindheit sehr streng mit Süßigkeiten. Nach meinem Vater hätten wir kaum einen Gramm Zucker im Haus haben sollen (was ja eigentlich sehr vernünftig ist). Die Folge war nur, dass jedes Mal, wenn ich bei Freunden zu Besuch war, meine erste Frage war: „Habt ihr was Süßes?“. Dort habe ich mir dann den Mund mit Gummibärchen, Maoam und Fanta vollgestopft. Genau das gleiche wäre wohl passiert, hätten mir meine Eltern damals Handyverbot erteilt. (Ich muss aber dazu sagen, dass ich letztes Jahr ein zuckerfreies Jahr gemacht habe. Hätte ich das auch ohne diese damalige Grenze, Regulation, aber auch Inspiration gemacht?)
Was heißt überhaupt „etwas vernünftiges lernen?“ Als Kind und Jugendlicher suche ich doch ständig nach Vorbildern und Beispielen. Nicht immer finde ich in meinem direkten Umfeld Leute, die ähnliche Interessen, Probleme oder Themen beschäftigen. Online gibt es andere Möglichkeiten. Ist es nicht auch Lernen, wenn ich mir ein Video anschaue, indem verschiedene Youtuber über ihr erstes Mal sprechen oder indem eine Amerikanische Youtuberin auf Englisch über den neuesten Glitzer-Nagellack redet oder indem jemand in einem Land herumreist und vlogt? Regt das Backen von pinken Pfannkuchen mit Schweinekopf nicht auch kreative Gedanken an?
In Holland lerne ich ein Mädchen kennen, das sich das Instagram-Profil einer Fotografin anschaut und Notizen zum Fotografieren in ein Heft kritzelt. Ein anderer Junge schaut englische „Let’s Play-Videos“ und sagt, dass er so gelernt hat, fließend Englisch zu sprechen.
Und: an einigen Schulen, haben die Schüler sich selber das Handy verboten. In einer Woche hatten sie das mal ausprobiert — so ganz ohne Begrenzung. Danach waren sie so genervt, dass sie in der nächsten Woche das absolute Verbot wollten. Das war dann auch nicht ideal, sodass bei der nächsten Schulversammlung eine Erlaubnis von einer Stunde Handynutzung erteilt wurde. Bis der nächste Antrag auf Änderung kam. Es ist doch großartig, wenn sich die Kinder selber beobachten und beurteilen können. Man sollte die Fähigkeit der Kinder zur Selbstregulation und Selbstreflexion nicht unterschätzen.
Überhaupt – wenn ich zwei Wochen lang auf der Couch am Handy gehangen habe, habe ich dann nicht selber irgendwann Lust, mal einen blauen Himmel zu sehen?
3. Freunde finden – unter drei Gleichaltrigen?
Beobachtung: Viele Freie Demokratische Schulen haben nicht viele Schüler. Wir haben nur zwei Schulen erlebt, die über 100 Schüler hatte. Die kleinste hatte 24. Im Schnitt waren es ca. 50 Schüler – von der 1. bis zur 10. Klasse wohlgemerkt.
Kritik: Wir alle wissen, wie wichtig das soziale Umfeld, unsere Peergroup ist. Wieviel es uns lehren, beeinflussen oder inspirieren kann. Erst kurz vor der Oberstufe hat sich mein Freundeskreis auf andere Leute als Mitschüler vergrößert. Der Freundeskreis in der Schule ist also essentiell. An meiner Regelschule hatte ich die Auswahl von Freunden unter 150 Schülern in meiner Jahrgangsstufe. In Extremfällen kann es an Freien Schulen sein, dass ich nur einen Mitschüler in genau meinem Alter habe. Wie wahrscheinlich ist es also, dass ich mit diesem einen Mitschüler gut klar komme? Dass er in seiner Entwicklung an dem gleichen Punkt steht wie ich? Dass ihn die gleichen Themen interessieren wie mich. Das ist noch mehr ein Problem, wenn Schulen gerade neu im Aufbau sind – wenn ältere Schüler fehlen.
Pro: Die Schüler profitieren oft auf ganz anderen Ebenen. Sie lernen, eine Umsicht auf Menschen ganz verschiedenen Alters zu entwickeln. So profitieren die Jüngeren oft davon, wenn sie sehen, dass jemand Älteres schon lesen und schreiben kann. Das wollen sie dann auch lernen. Die Älteren lernen, auf die Jüngeren Rücksicht zu nehmen und Ihre Bedürfnisse wahrzunehmen. Und im Spiel – da vermischen sich die Grenzen des Alters sowieso. Außerdem lernt man Menschen kennen, mit denen man vorher vielleicht nicht so viel zu tun gehabt hätte. Man lernt sie und ihre Sicht auf die Welt intensiv kennen und kann so oftmals seinen eigenen Horizont erweitern.
Es ist ein Balance-Akt — diese Schulgröße. Eine Diskussion zwischen dem Erhalten der persönlichen Beziehung zwischen allen Schülern sowie Lehrern und de gleichzeitigen Gewährleistung einer Freundesgruppe.
Es gibt noch andere Kritikpunkte, die man erwähnen könnte. Die Fragen: „Sind diese Schulen etwas für jedes Kind?“ oder „Wird meinem Kind hier auch wirklich die ganze Bandbreite geboten? Gibt es nicht die Chance, dass eine Leidenschaft für z. B. Biologie verborgen bleibt?“ oder „Bereitet die Schule auf das wahre Leben vor mit all dem Leistungsdruck?“. Doch je mehr ich versuche, diese Fragen zu beantworten, frage ich mich: Erfüllt die Regelschule diese Anforrderungen überhaupt? Inwiefern ist die Regelschule geeignet für jeden? Inwiefern bietet die Regelschule die Bandbreite an „Fächern“? Inwiefern bereitet die Regelschule auf das „wahre“ Leben vor?
Während ich mir jetzt bei Kerzenlicht und Sonnenuntergang die Zusammenstellung meiner Punkt anschaue, merke ich, dass ich eine Argumentationsstruktur gewählt habe, die zugunsten der Freien Schulen liegt. Man könnte meinen, dass ich jeden Kritikpunkt mit einem Pro-Argument widerlegen möchte. — Vielleicht bin ich ja echt Werbefachfrau. Vielleicht bin ich von diesen persönlichen Erfahrungen einfach geblendet. Vielleicht bin ich aber auch eine Autorin, die das Konzept von Freien Schulen tief beeindruckt hat. Vielleicht schreibt man so, wenn man von etwas überzeugt wurde.
2 Antworten
Vielen Dank dafür, dass du von deinen Erlebnissen berichtest!
Danke für diese kritischen Einblicke und deine ehrliche Argumentationsstruktur. Und ja, ich denke so schreibt man, wenn man überzeugt von etwas ist und ich finde das ziemlich ok 🙂