Marius spielt gerade Klavier. Er sitzt einen Stock über uns in der Schule und glaubt, dass keiner ihn hört. Wir hören ihn aber. Wir, dass sind Bernd und ich. Bernd ist Lernbegleiter und Musiker an der PIEKS, einer demokratischen Schule in Stuttgart.

Meine erste Gitarrenstunde hatte ich bei ihm. Als wir bei ihm im Musikraum saßen, war ich ganz am Anfang. Ein unbeschriebenes Blatt. Der erste Farbklecks auf diesem Blatt war das Vorspiel von Bernd, der kurz „Lady in Black“ performte, um die ungefähre Melodie in den Kopf zu bekommen. Danach war ich dran. Ich hatte keinen blassen Schimmer davon, wie ich die Akkorde zu greifen hatte. Oder wie ich die Saiten richtig anzuschlagen hatte. Und wie ich die Gitarre richtig herum halte. Bernd zeigte es mir.

Ab da war es in meiner Verantwortung, das Gezeigte in die Tat umzusetzen. Immer und immer wieder, bis es ungefähr nach der Melodie klang.

Bernd motivierte mich immer wieder. Er lobte mich für einen schnellen Umgriff oder für einen sauberen Rhythmus. Schnell merkte ich, dass ich mich nicht mehr auf die Gitarre konzentrierte, sondern auf das, was Bernd gesagt hatte. Und schon verspielte ich mich. Bernds Kommentare lenkten mich ab. Aber warum? Eigentlich war sein Lob doch ermunternd und motivierte mich mehr zu leisten?

Nach dem vierten Mal stoppte ich und sprach ihn darauf an. „Bernd, kannst du mir einen Gefallen tun und mich nicht loben? Oder auch nicht sagen, wenn etwas gut war? Verbesserungen aber gerne, ich will ja besser werden.“ „Äh, Ja klar! Aber ich kann nix verspreche, wenn‘s raus muss, muss es raus! Dafür bitt ich um Verzeihung, ich gebe mein bestes!“

Also gut, neue Runde. Keine ungefragte Bewertung und kein Feedback. Außer ich hole es mir konkret ab. Verkrampft. Noch immer. Ich will unbedingt alles richtig machen. Nach 20 Minuten fange ich an zu entspannen.

Ich bemerke, wie ich weiterhin versuche, Bernds Mimik zu lesen, um mir Feedback abzuholen. Dabei habe ich selbst es ihm doch gerade unterbunden! Warum suche ich trotzdem weiter nach Bestätigung!? Verdammt noch mal, es reicht jetzt! Er wertet es nicht, egal was ich mache.

Nach und nach schaffe ich es, die Gedanken auszublenden und mich nur auf die Gitarre zu konzentrieren. Den Rest der Stunde mache ich erstaunliche Fortschritte.

Diese Fortschritte motivieren mich. Vollkommen unabhängig von Lob und Bestätigung von außen. Weil es unglaublich befriedigend ist, den Takt zu treffen und der Songvorlage gut zu folgen. Weil es Spaß macht zu merken, dass es sich lohnt sich durch die ersten ungelenken Zeiten des Übens durchzubeißen. Weil ich belohnt werde, mit einem sauberen und flüssigen Lied.

Nun habe ich nicht nach der ersten Stunde aufgehört, sondern immer weiter motiviert geübt. Mittlerweile sind gut zehn Wochen vergangen, in denen ich fast jeden Tag geübt habe (immer noch mit ausgeliehenen Instrumenten). Und das nicht nur für eine halbe Stunde, sondern eher zwei bis drei Stunden lang.


In dieser Zeit, vor allem am Anfang, war ich noch sehr auf der Suche nach Bestätigung von außen. Ich wollte, dass meine Mitbewohner es hören, wenn ich spiele. Oder meine Familie, wenn ich übe. Oder dass Bernd auftaucht, wenn ich grade zufällig spiele. Diese Anbiederung widert mich an.

Tatsächlich ekele ich mich vor mir selbst, diese Bestätigung von außen so nötig zu haben. Wieso habe ich so sehr das Verlangen nach Anerkennung? Und was macht das mit mir? Im Laufe der ersten Tage habe ich viel darüber nachgedacht und bin zu einem Schluss gekommen:

Ich will unabhängig von anderer Leute Meinung sein.

Das scheint erst einmal logisch, wer will das nicht? Aber zu diesem Schluss zu kommen, war für mich nicht einfach. Ich musste mir eingestehen, dass ich aktiv die Bestätigung und Aufmerksamkeit von anderen suche. Dass ich fast schon süchtig danach bin. Dass es mir wichtiger ist, von außen positives Feedback zu meiner Leistung zu bekommen, als vor mir selbst zu genügen.

Und die wohl krasseste Erkenntnis: Ich musste mir damit eingestehen, dass ich mir selbst nicht genug bin.

Diese Suche nach äußerer Bestätigung musste aufhören.

Die Konsequenz: Üben, üben und nochmals üben, wenn niemand zuhört. Alle Türen schließen. Fenster zu. Aufhören, wenn jemand ins Zimmer kommt.

Nicht spielen, obwohl keiner zuhört. Sondern weil.

Meine einzige Bestätigung ist ein sitzender Griff, ein klingender Ton, ein vollendeter Song.

Keine Motivation von außen.

Keine Bestätigung von außen.

Keine Bewertung von außen.

Alles was zählt, ist meine Meinung. Mein eigener Anspruch an mich selbst. Ich muss es niemandem recht machen. Will ich auch nicht.

Volle Konzentration auf die Gitarrengriffe - ohne gelobt zu werden.

Die einzige Bestätigung: Ein sitzender Griff, ein klingender Ton, ein vollendeter Song.

Ich schlage den Bogen zurück zur Schule: Wie oft wurde ich bewertet und begutachtet, gewichtet und geprüft? Wie oft bestimmen fremde Menschen von außen meinen Wert? Wie viele Tränen sind schon geflossen und werden weiterhin fließen aufgrund schlechter Bewertungen? Ich selbst habe mich lange Jahre über Noten definiert. Es war stetig dieser Gedanke im Hinterkopf: Du bist nur so viel wert, wie deine Noten!

Diesen kleinen Gedankenteufel konnte ich bei vielen meiner Mitschüler beobachten. Tränen waren nicht selten, wutverkrampfte Fäuste und hasserfüllte Mienen, direkt neben strahlend lächelnden Einserschülern und freudigen Seufzern. Niemandem in meiner Klasse waren die Noten egal. Ich wünschte fast, es wäre so gewesen.

An der Demokratischen Schule PIEKS, an der ich momentan arbeiten darf, erlebe ich tagtäglich eine Schule ohne ungefragte Benotung. Ohne Klassenarbeiten, ohne standardisierte Tests. Eine Schule ohne Konkurrenzdenken. Eine Schule, in der sich die Kinder nicht über die Bewertung, Meinung und Ansicht der Erwachsenen definieren, sondern über sich selbst.

Hier lernen sie, dass sie selbst genug sind. Dass sie gut sind, wie sie sind. Und alle anderen auch.

Jetzt gerade spielt Marius wieder Klavier. Er hat es sich selbst beigebracht, übt zu Hause und in der Schule. Aber es ist ihm unangenehm, wenn er zu viel Lob bekommt. Er will doch nur spielen. Jetzt kann ich ihn verstehen.

PS: Falls Du eine Westerngitarre zu Hause herumliegen hast, die nur verstaubt: ich hätte vielleicht Interesse daran ? Schreib mir gerne eine Mail an Jonas@schoolsoftrust.com

Zum letzten Artikel geht es hier: https://blog.schoolsoftrust.de/freie-schule-angst-zu-versagen/

Schon gelesen wie Jonas sich vor ein paar Wochen in die Musik gestürzt hat? Nein? – Dann schau hier vorbei: https://blog.schoolsoftrust.de/raus-aus-der-komfortzone-rein-in-die-musik/

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert