Ich bin Svea. Mein ältester Sohn besucht seit Sommer 2018 die erste Klasse einer freien demokratischen Schule in der Schweiz. Nach zwei Jahren im staatlichen Kindergarten, absolvierte er diese Woche seinen Schulstart.

Welche Höhen und Tiefen durchleben wir mit unseren drei Kindern in einem Schulsystem, dass heute leider noch nicht Standard ist? Wie empfinden wir, aus Sicht der Eltern, den Schulalltag der freien demokratischen Schule? In regelmäßigen Abständen lasse ich euch künftig auf dem Schools of Trust Blog an unserem Alltag teilhaben.

Der Abend vor dem Schulstart in der freien demokratischen Schule.

Eine Schultüte! Diese hat in der Schweiz keine Tradition, aber so langsam scheint sich dieser deutsche Brauch auch bei uns einzuschleichen. Ich finde so eine Schultüte total überflüssig. Mein Sohn allerdings wünschte sie sich so sehr, dass ich kurzentschlossen am Sonntag Abend entschied, ihm doch so eine Tüte zu schenken.

Während dem ich also alles mögliche an Süßkram an der Tankstelle zusammenkaufte (pädagogisch sinnvoller Inhalt? Fehlanzeige!), bastelte mein Mann aus dem was gerade noch zu Hause war eine Schultüte. Das Ergebnis: Eine Schultüte, die als solche zumindest zu erkennen ist und ihren Zweck erfüllt.

Ich wusste, dass er in eine tolle Schule gehen und dass es ihm dort gefallen würde. Vermutlich war ich deshalb anfänglich der Meinung, er sei nicht so speziell, wie der Schulstart in der staatlichen Schule. (Wo sich für die Kinder ja doch so vieles verändert.) Dennoch: Auch in einer freien Schule fängt für die Kinder ein neuer Lebensabschnitt an, den man gebührlich zelebrieren sollte.

Seine Freude am nächsten Morgen als er die Schultüte erblickte war jeden nächtlichen Aufwand wert!

Eltern Schulstart
Schultüte am Frühstücksplatz für den ersten Schultag.

 

 

Erster Schultag in der freien demokratischen Schule.

Ich begleitete meinen Sohn in die Schule und blieb noch eine Zeit lang dort um sicher zu gehen, dass alles in Ordnung ist. Nicht weil mein Sohn dies gebraucht hätte – er ist mit dem Schulalltag ja bereits aus der Schnupperwoche bestens vertraut – vielmehr habe ICH es gebraucht.

Schulbeginn um 09.00 Uhr: Überall stehen Schuhe und Rucksäcke herum. Viele Eltern sind da und es herrscht buntes Gewimmel. Es ist nicht so, wie ich es vom Kindergarten gewohnt bin. Dort hatte jedes Kind an der langen Garderobe seinen Platz, welcher bereits mit Namen und Bild angeschrieben war. Es gibt auch keinen Sitzkreis oder Pulte, welche für die Kinder speziell vorbereitet sind. Stattdessen treffen wir auf eine altersdurchmischte Kinderschar in einem großen Raum voller Spielnischen. Büchergestelle, Körbe voller Lego, Spiele, drei große Tische, ein Hochbett und ein Sofa mit vielen kuscheligen Kissen. Am Boden liegen verschiedene Teppiche, welche dem Raum eine heimelige Atmosphäre verleihen. Die Kinder begrüßen sich freudig, während andere bereits am Spielen sind.

Mein Sohn schaute sich erst im Raum um und war kurz überfragt, was er jetzt machen soll. Aber noch bevor alle Kinder offiziell begrüßt wurden, war er bereits in ein Spiel vertieft, bei welchem er versuchte die Waagschale einer alten Waage ins Gleichgewicht zu bringen. Schnell gesellten sich zwei weitere Jungs dazu und halfen mit, verschiedene Gewichte auf die Waagschalen zu verteilen. Das Eis war gebrochen.

Überraschend war, dass plötzlich in der Gruppe die Idee aufkam, gemeinsam ein Lied zu singen. Ein Kind schlug: „One Life One Soul“ von Gotthard vor. Kurzerhand holte eines der älteren Kinder eine Gitarre und spielte darauf das Lied vor und sang dazu. Einige sangen mit – nicht mein Sohn, er interessierte sich mehr für die Waage. Mich beeindruckte es, dass ein Kind spontan vor so vielen fremden Leuten (es waren ja etliche neue Eltern und Kinder dabei) ein Lied vorspielte. Frei aus dem Moment heraus, ungezwungen und berührend.

Vielleicht inspirierte dieser kleine Auftritt ein anderes Kind, auch lernen zu wollen, wie man Gitarre spielt? Das gefällt mir an dieser Schule. Es laufen überall Dinge ab, die das Potential haben, das Interesse der Kinder zu wecken. Ist die Begeisterung vorhanden, wird mit Freude und oft sehr schnell gelernt. Aus neurobiologischen Erkenntnissen weiß man, dass nur was emotional aufgeladen ist, auch im Gehirn verankert bleibt (unten mehr dazu).

Lernen loszulassen

Im Verlaufe des Morgens verabschiedete ich mich von meinem Sohn. Einige andere Eltern blieben noch länger. Mein Sohn war versunken in sein Lego-Spiel mit zwei anderen Jungs. Er zeigte seine gebauten Werke stolz den anwesenden Erwachsenen und ich spürte, dass es okay ist, wenn ich jetzt gehe.

Ich muss zugeben, das Unstrukturierte – oder eben das FREIE – war für mich ungewohnt und ich ertappte mich dabei, dass ich überbehütend meinem Sohn hundert Mal erklärte, wo sein Rucksack ist und wo ich seine Hausschuhe hingestellt habe (die er natürlich nicht anziehen wollte weil er lieber nur in den Socken spielte). Ich trichterte ihm nochmals ein, dass er sich bei Hunger selber etwas zu Essen holen könne, weil es keine offizielle Pause wie im Kindergarten gibt und bei welcher Person er sich melden könne, falls etwas sein sollte. Meinen Sohn interessierte das alles überhaupt nicht, er fühlte sich pudelwohl.

Ich bin es anders gewohnt und ich spüre, dass ich mich darin üben muss, loszulassen und die Verantwortung meinem Kind zu übergeben. Er wird selber feststellen, wenn er friert und auf die Idee kommen, dass im Rucksack warme Kleider sein könnten und er wird ebenfalls selber die Erfahrung machen, dass er seine Sachen in der Schule nicht mehr findet, wenn er sie achtlos irgendwo liegen lässt.

Fazit der Eltern nach der ersten Schulwoche:

Der Schulstart ist vollumfänglich geglückt! Mein Sohn liebt die Schule und fühlt sich wohl dort. Als ich ihn am zweiten Schultag mittags abholte, bat er darum, auch am Nachmittag noch bleiben zu dürfen, obwohl die Unterstufe am Nachmittag frei hat. 

Ansonsten kann ich noch nicht viel berichten, denn eigentlich habe ich keine Ahnung davon, was mein Sohn die ganze Woche über in der Schule gemacht hat. Anhand seiner Erzählungen weiß ich, dass er ein Buch vorgelesen bekommen hat mit dem Titel „Super Tiere“ und er mich daraufhin zu Hause mit diversen Fakten belehrte, welches das größte, schnellste oder schleimigste Tier der Welt ist. Er war im Wald, er spielte Posaune und hat viel mit einem neuen Freund gemacht.

Auf geht‘s ins Wochenende und in die neue Woche! Wir freuen uns.

 

Freie Schule Eltern
Svea ist neben ihrem aktuellen Job als Vollzeit-Mum von zwei Söhnen und einer Tochter, diplomierte Pflegefachfrau HF in Fachrichtung Psychiatrie, systemische Einzel-, Paar- und Familientherapeutin und Bloggerin auf www.dreimalfrei.ch. Sie blogt seit der Einschulung ihres Sohnes über Familienthemen, freie Schule und das Freilernen. Ehrlich, selbstkritisch und manchmal sarkastisch… aber mit Herz, Humor und einer guten Portion Tiefgang. Schaut doch mal vorbei!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wenn du mehr darüber erfahren möchtest, wie das menschliche Gehirn am besten lernt:

Das Gehirn ist kein Muskel.

Das menschliche Gehirn funktioniert nicht wie ein Muskel, den man durch schulische Lernangebote trainieren könnte. Neues Wissen und neue Fähigkeiten und Fertigkeiten erwirbt ein Mensch nur dann, wenn es ihn emotional berührt, wenn ihm etwas unter die Haut geht, wenn also die emotionalen Zentren in seinem Gehirn aktiviert werden.

Nur dann werden an den Enden der weitverzweigten Fortsätze der im Mittelhirn in den emotionalen Zentren lokalisierten Nervenzellen sog. neuroplastische Botenstoffe ausgeschüttet. Sie wirken wie Dünger auf die in diesem Zustand emotionaler Beteiligung aktivierten, zur Lösung eines Problems oder zur Klärung einer Fragestellung aktivierten, neuronalen Verschaltungen. Sie stimulieren das Auswachsen weiterer Fortsätze und die Bereitstellung weiterer Kontakte und Vernetzungen.

Deshalb kann man eigentlich nur dann etwas neues Lernen und eine neue Erfahrung in Form neuer Verschaltungsmuster im Hirn verankern, wenn man sich darüber begeistert oder wenigstens freut, wenn das, was es zu lernen gilt, also auch wirklich bedeutsam für denjenigen ist, der lernt. Zu diesen Selbstbildungs- und Selbstaneignungsprozessen kann man Schüler nicht zwingen, weder mit Belohnungen noch mit Bestrafungen. Dazu kann man sie nur einladen, ermutigen und inspirieren.“

Prof. Dr. Gerald Hüther – Professor für Neurobiologie, Autor, Elternratgeber

 

Zum letzten Artikel über die Grenzen von Arbeit und Privatleben geht es hier:

Von jemanden, der auszog, um Arbeit und Privatleben besser zu trennen.

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