Heute begleite ich die Erstklässler*innen Hoa, Jan, Dirk und Artur.*

Für sie ist es der Einstieg in das Schulleben und gleichzeitig der Beginn einer Zeit, die geprägt sein wird durch die Selbstverständlichkeit von Masken und Abstand. Heute spielt das allerdings noch eine etwas kleinere Rolle, denn wir haben einen Spätsommertag im September. Dieser Beitrag hinkt also im Zeitstrahl etwas zurück. Corona ist natürlich längst im vollen Gange, die Schule arbeitet an ihrem Hygiene-Konzept, aber die ersten Wochen des Schuljahres sind noch nicht gänzlich vom heutigen Dauerthema Corona geprägt. 

Alle vier Kinder sind Erstklässler*innen. Bei uns heißen sie Einschüler*innen. Sie sind nun seit August an der Demokratischen Schule und ich habe den Eindruck, bisher finden sie es sehr aufregend hierher zu kommen. 

8:00 Uhr. Die Schule öffnet.

Hoa ist pünktlich, wie jeden Tag in den ersten Wochen. Sie tritt ins Schulgebäude, dreht ihr Namensschild auf Grün, sodass alle wissen, dass sie da ist, geht die Hände waschen und trägt die Uhrzeit ihrer Ankunft in die Liste am Willkommens-Board ein. Noch sind nicht viele Kinder da, denn die Anwesenheitspflicht beginnt erst um 10 Uhr. Einige Kinder nutzen die Chance der frühen Stunde und haben sich die Plätze an den PCs gesichert. Eine Gruppe spielt Motorradrennen, ein Kind schaut eine Serie mit Meerjungfrauen. Hoa interessiert das nicht. Sie hat Lust auf Holz – und zwar sofort. 

Immer mittwochs (das weiß ich, denn mittwochs arbeite ich regelmäßig im Frühdienst) geht Hoa zuerst in die Holzwerkstatt, bittet um dünne Holzplatten, Bleistift und Holzleim und dann legt sie los. Sie zeichnet kleine Stücke ein, plant, misst, klebt, drückt und gibt Anweisungen: „Ich brauch dich mal. Kannst du mir das aussägen? Ich mag einen Schaukelstuhl bauen für mein Puppenhaus.“ Hoa arbeitet konzentriert. Und am liebsten alleine. Sie schließt immer sofort die Türe zur Werkstatt, wenn sie loslegt. So sind in den letzten Wochen zahlreiche Raummodelle unter ihrer Planung entstanden. 

Doch dann wird die Ruhe unterbrochen. Jan tritt in die Werkstatt, mit Papa. Und er erzählt voller Stolz: „Schau, das ist die Seifenkiste, von der ich gesprochen habe. Ich hab sie mit einem Mitarbeiter gebaut. Schieb mich mal zur Eingangstür der Schule!“ Während Jan durch die Schule gefahren wird, begleiten ihn Zurufe anderer Kinder: „Wow… wie cool. Hast du das selbst gebaut?“ „Lass mich auch mal fahren.“„Krass!“

8:35 Uhr. Genau in diesem Moment kommt Dirk mit seiner Mama an. Er kann noch nicht schreiben und die Uhr kennt er auch noch nicht. Aber seine Mama hilft ihm sich in die Liste einzutragen, bringt seine Jacke in den Spind und will ihm noch einen Schmatzer geben, aber Dirk ist schon am Kicker zusammen mit Artur und hat nur noch Augen für den Ball. 

Artur spielt jeden Morgen eine Runde Kicker.

Er steht auf einem Stuhl, um das Spielfeld besser zu überblicken und kurbelt wie ein Weltmeister. „Man darf nicht kurbeln. Auch nicht, wenn man Einschüler ist!“, ruft ein Jugendlicher im Vorbeigehen. 

„Hast du Lust heute mit in die Turnhalle zu kommen?,“ fragt Artur Dirk. „Beim letzten mal waren wir voll viele Kinder. Das hat total Bock gemacht.“ Dirk antwortet: „Ne, heute nicht! Ich darf ab jetzt mit einem Mitarbeiter oder mit zwei weiteren Kindern alleine zum Einkaufen, wenn ich mag. Hat mir Mama erlaubt. Und ich will mir Eis kaufen.“

Eis kaufen, Eis essen, mit Eis prahlen und mit Eis bezahlen.

Eis ist an meiner neuen Schule wohl so etwas wie eine Währung. Okay, es ist Ende September und die Sonne hat noch Kraft, aber es ist für mich schon sehr gewöhnungsbedürftig mit Dirk um 11.30 Uhr von einem Einkauf bei Aldi, der unweit der Schule liegt, mit 2 Packungen Flutschfinger zur Schule zurückzukommen. Das fühlt sich gerade nicht nach Schule an, auch wenn Dirk 1,49 € plus 1,49 € selbst aus seinem Geldbeutel geholt hat, bzw. ich ihm erkläre, dass 3 Euro minus 2 Ct der gewünschte Betrag wären. Didaktische Reduktion nennt man das, glaub ich. Egal, Dirk ist happy: „Da schreib’ ich meinen Namen drauf und dann leg ich die in das Schülereisfach und vielleicht verschenk’ ich auch ein Eis an Artur. Aber es muss für mich genug bleiben.“

11:45 Uhr. Der Computerraum wird während der Mittagsessenzeit abgeschlossen. Das ist eine neue Regel, die die Schulversammlung letzten Dienstag beschlossen hat. „Mittagessen im Garten!“, ruft eine Mitarbeiterin. Dirk hat keinen Hunger, denn er hatte ja schon drei Flutschfinger. Er kommt trotzdem mit raus.

Wie finde ich es eigentlich, dass die Kinder selbstverantwortlich für ihren Zuckerkonsum sind?

Sollten wir Erwachsene das nicht eigentlich verbieten? Ich bin nicht der Einzige, der oder die das komisch findet, aber ein Argument lautet: „Verbote bringen nichts. Viele Kinder hatten diese Phase, aber sobald der Reiz verfliegt, schmälert sich auch der Konsum.“ Ich weiß nicht so recht.  

11:45 Uhr also. Es gibt Essen im Garten. Kartoffeln mit Erbsen und Gemüsepatties. Alle sitzen gut gelaunt beisammen. Kinder quatschen mit Erwachsenen und andersherum. Es wird von alten Zeiten erzählt und von einer legendären Winterfreizeit in Tschechien.

12:30 Uhr. Ein Schüler mit Schärpe um die Brust läutet mit einer Glocke.

Das ist die Aufräumkontroll-AG, die läuten zur gemeinsamen Aufräumzeit. Alle begeben sich in ihre zuständigen Räume: Jan in die Holzwerkstatt, Hoa in die Nähwerkstatt, Artur in den Willkommensraum, Dirk in den Sprachenraum und nach ca. 10 Minuten kommt die Aufräumkontrolle und erklärt den Raum für abgenommen, wenn man Glück hat und die Aufräumkontrolle nicht in die Ecken oder unter die Regale schaut. 

14:15 Uhr. Draußen scheint die Sonne. Während viele ältere Kinder gerade im Matheunterricht sind, zieht es viele der jüngeren Kinder auf den Spielplatz. Jan, Dirk und Artur rasen durch den Garten und steigen in eine Wasserbombenschlacht ein. Später sehe ich sie, wie sie mit einer Gruppe von zehnjährigen Kindern Schweden-Schach spielen. Die Zeit verfliegt.

14:45 Uhr. Hoa sitzt währenddessen mit anderen Kindern im Sprachenraum und spielt ein Lesenlerner-Spiel. Sie hält einen Plastikschieber in der Hand, in dem eine Karte mit kleinen Bildern steckt. Diese kenne ich aus typischen Anlauttabellen zum Schreibenlernen in der Grundschule. Eine Mitarbeiterin erklärt, dass man den ersten Buchstaben zur richtigen Abbildung schieben muss. Hoa hat Spaß daran – müssen tut sie das nicht. 

16:00 Uhr. Gerade ist eine YouTube-Tanzparty im Gange.

Ungefähr 8 Kinder stehen vor einer Leinwand im verdunkelten Schulversammlungsraum. Auf dieser tanzen Schattenfiguren eine Choreographie. Die Kinder versuchen diese nachzutanzen. Es wird gelacht, gekreischt und getanzt. Auf einmal steht Jans Papa wieder im Flur der Schule um ihn abzuholen. Jan kann es nicht fassen: „Warum kommst du jetzt schon? Ich will noch nicht gehen. Ich wollte nochmal in die Holzwerkstatt und an der Seifenkiste weiterbauen.“  

Jan, morgen hat die Schule auch wieder auf. Und es wird bestimmt wieder etwas in der Schule passieren, was du dir so noch nicht vorstellen kannst. Oder kann nur ich mir nicht vorstellen, dass Schule so ablaufen kann? 

*Die Namen der Kinder wurden geändert.

Noch nicht genug? Hier ein Einblick in den Alltag einer sehr berühmten freien Schule – der Sudbury Valley School. Das Video zeigt eine eigene Welt, die fast schon wirkt, als wäre sie aus Hollywood. Doch die Erzählungen der Schüler*innen erinnern mich stark an den Alltag und die Art des Lernens, wie sie auch an meiner Schule gelebt wird… 

 

https://www.youtube.com/watch?v=NxPnvJE0V2E

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