„Kinder sind keine Fässer, die gefüllt, sondern Feuer,
die entzündet werden wollen.“
Rabelais 1490 – 1553
Hilfe! Ich habe eine Phobie gegen Arbeitsblätter. Das ist nicht schlimm, sagst du? Aber ich bin Lehrerin. Mit einer solchen Phobie steht man in meinem Berufsfeld ziemlich alleine da auf weiter Flur. Das ist nicht leicht, ich will mich hier outen. Am Montagmorgen bring auch mal alibimäßig ein Blatt Papier mit, welches ich dann nur so zum Schein in 26iger Ausführung über den Kopierer ziehe. Bloß um mich anzustellen, in der morgendlichen Schlange, um nicht aufzufallen. Ich bin noch nicht so weit, oder vielleicht ist es auch das Bildungssystem, das noch nicht so weit für mich ist, zumindest das in meinem unmittelbaren Umfeld. Es gibt sie bestimmt da draußen, denen es ganz ähnlich geht wie mir.
Arbeitsblätter braucht kein Kind
Wozu dieses massenhafte vervielfältigen von Blättern, die selbst schon die 100. Kopie zu sein scheinen? Nur um mich dann zu beschweren, dass die Kinder den Arbeitsauftrag nicht verstehen? Na wie denn auch, wenn jeder Schulbuchverlag da seine eigene „Handschrift“ hat. Und wenn ich es geschafft habe, den Arbeitsauftrag zu erklären, die ersten drei der fünf Lücken durchgesprochen habe, kann ich mich ganz entspannt für 10 Minuten zurücklehnen, währenddessen alle Kinder in der Klasse zur gleichen Zeit die gleichen Lücken ausfüllen und wage sich einer da etwas Anderes aufzuschreiben, als es das Lösungsblatt vorsieht.
Für mich ist das eine ganz fürchterliche Vorstellung. Das war nicht immer so. Auch ich habe früher ganze Themeneinheiten an Stationen mit Hilfe von Arbeitsblättern bearbeiten lassen. Jetzt kann ich das den Kindern nicht mehr antun, das ist ein purer Zeitvertreib. Es ist ja nicht so, dass ich heute gar keine Arbeitsblätter verwende. Ich gebe mir da mitunter sehr viel Mühe. Ich nehme ein weißes Blatt und loche es – fertig. Blätter ohne Löcher, kann ich ja gar nicht haben. Besonders nicht als kleiner zusammengefalteter Haufen ganz unten in der Schultasche.
Fachwissen hat ausgedient
Niemals! Wirst du jetzt sicher sagen. Kinder brauchen Bildung. Fachwissen ist da ganz wichtig. Was ist Fachwissen? Schauen wir hier mal in den Schulalltag einer 2. Klasse: Das Alphabet rückwärts aufsagen, acht verschiedene Frühblüher-Arten erkennen und benennen (wohlgemerkt auf Arbeitsblättern). Fachwissen, welches in Grundschulen vermittelt wird. Bereitet das ein Kind auf seine Zukunft vor? Hilft es dem Kind zu einem selbstständigen, handlungsfähigen Menschen zu werden? Es geht nicht mehr um Fachwissen, es geht um den Erwerb von Kompetenzen.
Vermittlung von Fachwissen
Lehrer: „In dieser Woche schauen wir uns verschiedene Frühblüher an. Ich habe euch dazu verschiedene Arbeitsblätter vorbereitet. … Nun könnt ihr euch ein Arbeitsblatt aussuchen. Wenn ihr das fertig habt, kontrolliert ihr es mit dem Lösungsblatt und holt euch dann das nächste.“
Schüler: Holen sich ein Arbeitsblatt – verbinden, schreiben, kleben und malen.
Vermittlung von Kompetenzen
Schüler beim Spaziergang durch den Park: „Diese Blume sieht aber schön aus. Was ist das für eine?“
Lehrer: „Eine interessante Frage – wie könntest du das herausfinden?“
Das Kind macht ein Foto, stöbert in Büchern, recherchiert im Internet. Es wird die Antwort herausfinden und es ist meine Aufgabe, das Kind dabei zu begleiten und zu unterstützen.
Nun mal alle das Alphabet rückwärts aufsagen
Es gibt Lehrer, die lassen Kinder das Alphabet rückwärts auswendig lernen und dann vor der Klasse aufsagen. Na geht’s noch? Wo ist der Sinn? Brauch ich dazu noch eine Fortbildung, um das zu durchdringen? Da wird mir ganz kirre. Leg du doch mal los und sag es auf. Hebe die Hand – nur ganz leicht – wenn du es nicht kannst, also meine Hand ist schon oben. Jeder selbstständig denkende Mensch würde sich weigern, so etwas Sinnfreies zu machen. Kinder können das noch nicht erkennen, sie tun, was man von ihnen verlangt. Wir sollten das von Ihnen verlangen, was sie auf ihre Zukunft vorbereitet.
Kein Fachwissen mehr?
Kannst du noch den Scheitelpunkt von einer Normalparabel mit einer Geraden im Koordinatensystem bestimmen? Wie viele rhetorische Mittel kannst du heute noch namentlich benennen und deren Bedeutung in Texten wirkungsvoll zum Einsatz bringen? Das sind zwei thematische Auszüge die du mal konntest, wenn du einen mittleren Schulabschluss hast. Erinnerst du dich noch? Hilft dir das in deinem beruflichen und privaten Alltag?
Du magst noch wage eine Vermutung haben. Müsste man sich nochmal belesen. Doch wozu? Das braucht man nicht, es geht ja im alltäglichen Leben auch so. Wozu also das ganze Fachwissen? Ganz ohne Zweifel gibt es Fachwissen, das muss einfach sitzen. Das muss ein Schüler einfach können, wenn er aus der Schule kommt. Drei Geldbeträge zusammenaddieren oder einen Brief (sagen wir eher eine E-Mail) schreiben, der grammatikalisch richtig und nicht von Rechtschreibfehlern durchzogen ist. Das können aber viele nicht, wenn sie die Schule verlassen. Was ist passiert? Wahrscheinlich zu viele Frühblüher auswendig gelernt. Da war dann keine Zeit und Aufnahmekapazität im Gehirn mehr.
Meine Vorstellung von Bildung
Simpel wie einfach – kein Hexenwerk. Beschränkt euch auf das Wesentliche. Was ist das, wirst du fragen? Die Frühblüher zu unterscheiden, wirst du als grüner Daumen Fanatiker antworten. Da sag ich nein – sorry. Es sei denn, das lernende Kind hat auch den grünen Daumen und interessiert sich dafür. Ich bin Lehrerin in einer 1. Klasse und zeige dir, wie es gehen kann. Zunächst werfe ich mit Begriffen um mich, die es so in der Didaktik gibt, ich aber eher für mich adaptiert habe. In meinem Unterricht entwickeln sich die Kinder in Lernumgebungen und beschreiten einen Lernweg.
Lernweg des Kindes
Es gibt einen Lernweg, um jeweils das Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen. Ein Lernweg besteht aus verschiedenen Meilensteinen. Meilenstein für Meilenstein wandert ein Kind auf diesem Lernweg entlang und lernt dabei lesen, schreiben und rechnen – die fundamentalen Kenntnisse. Das Kind legt das Tempo fest, ausgelassen wird dabei kein Meilenstein. In der 1. Klasse starten alle Kinder jeweils beim ersten Meilenstein, doch ziemlich bald beschäftigt sich jedes Kind mit einem anderen Meilenstein. So unterrichte ich bereits seit vielen Jahren. Dabei greife ich auf Erklärvideos zurück. Von mir aufgenommene Videos, die jeden einzelnen Meilenstein erklären.
Früher nannte man das Frontalunterricht, bei mir ist es Frontalunterricht in Einzelarbeit, mit Hilfe von Tablets. Fürchterlich sagst du? Tablets in der 1. Klasse? Nutzen die die Kinder nicht schon zu Hause viel zu viel? Vielleicht, doch es ist meine Aufgabe als Lehrerin, die Kinder im Umgang mit digitalen Medien handlungsfähig zu machen, ihnen den Nutzen daraus zu zeigen und die Verantwortung nicht ans Elternhaus abzugeben. So zeige ich in den Erklärvideos genau das, was ein Kind wissen muss, um einen neuen Meilenstein auf dem Lernweg zu verstehen und bewältigen zu können.
Jedes Kind hat ein Recht auf eine Entwicklung im individuellen Tempo. Das war schon so, als das Kind laufen gelernt hat. Da hat man auch nicht schlagartig erwartet, dass das mit 12 Monaten klappen musste. Man hat dem Kind die Zeit gegeben, die es brauchte. Warum sollten wir denn nun in der Schule erwarten, dass jedes Kind in der 1. Klasse bis Weihnachten in der Lage ist, zu lesen?
Ganzheitliches Lernen in einer Lernumgebung
Der Lernweg (http://meilensteine.miaundmika.de) beschränkt sich auf die wesentlichen Kenntnisse im Lernprozess. So bleibt darüber hinaus noch ausreichend Zeit für die sogenannte Lernumgebung. Was soll das nun sein, fragst du dich. Etwas Grundsätzliches: Jeder Mensch, jedes Kind ist einzigartig. Jeder Mensch kann eine oder auch mehrere Dinge besonders gut. Es ist meine Aufgabe als Lehrer, diese Leidenschaften aufzugreifen und vorhandene Talente weiter zu fördern. Klar entwickeln sich Leidenschaften neu, doch wir müssen den Kindern die Möglichkeit und Zeit geben, ihre Leidenschaften und Talente zu entdecken. Wie soll das denn klappen, wenn der Schultag damit vollgestopft ist, das Alphabet rückwärts zu lernen oder sich Wochen mit den Frühblühern auseinander zu setzen?
Ich erschaffe zu einem Thema eine Lernumgebung und innerhalb dieser können die Kinder Dinge entdecken und ausprobieren, künstlerisch tätig sein oder was ihnen sonst in den Sinn kommt. Ich mach es dir an einem Beispiel deutlich. Nehmen wir das Thema Tiere. Welche Kinder sind in meiner Klasse? Da fällt mir sofort mein kleiner Forscher ein, der grundsätzlich immer eine Lupe dabeihat. Er will es ganz genau wissen und geht auf Entdeckungstour in die Natur. Ein anderer kleiner Wissenschaftler will sich doch mal damit auseinandersetzen, was es denn überhaupt so für Tierarten gibt und beginnt mit der Recherche. Dem Dichter und Denker liegt vielleicht gerade ein Gedicht auf den Lippen, welches er zu Papier bringen möchte, der Künstler gestaltet ein Tierbild. Solch ein Herauskitzeln der individuellen Interessen und Talente kann man bereits in der 1. Klasse anbahnen. Ich kann das mit einem ruhigen Gewissen tun, da das Kind parallel dazu die wesentlichen Kenntnisse auf dem Lernweg erwirbt.
Mein Wunsch
Befreit den Schulalltag vom reinen Tun, vom Ausfüllen von Arbeitsblättern. Lasst uns Kinder auf die heutige Welt vorbereiten. Es ist unsere Aufgabe, sie handlungsfähig zu machen, ihnen Zeit zu geben, ihre Begabungen zu entdecken und weiterzuentwickeln. Dabei brauchen Kinder unsere Unterstützung. Dieser Findungsprozess darf nicht erst nach der Schulzeit passieren.
Das ist mein Ziel
Zum Abschluss gebe ich dir noch ein Bild mit, welches die Handlungsfähigkeit verdeutlichen soll. Versuch dich in den Schüler hineinzuversetzen, wie er sich fühlt, wenn er nach der Schule in seine Zukunft schaut. Stell dir dazu Folgendes vor: Du wachst am Morgen auf und bist in einem fremden Land, du kennst niemanden. Du hast nur einen Laptop und 500€. Was wirst du tun? Wie orientierst du dich? Wie kommst du mit dem Geld aus? Wir müssen Schüler handlungsfähig machen, damit sie sich selbst orientieren können und sich dann nach ihrer Begabung, Leidenschaft und ihrem Interesse gezielt nach der Schule auf den Weg machen. Ich sage, das geht und es ist unsere Pflicht das zu tun.
Autorin: Diana Wegel
www.miaundmika.de/
Vielen dank für diesen tollen Beitrag, meine Hoffnung besteht das es für unsere Kinder etwas Zeitgerechter wird in der Schule. Ich würde mir noch viel mehr Lehrer wünschen die so denken. Vorallem am Land ist es schwer wenn es nur eine Regelschule zur Auswahl gibt.
Liebe Diana,
ich finde es toll, wie Du es machst. Leider konnte ich noch keine Erklärvideos machen, als ich in der Grundschule gearbeitet habe (bis vor fast drei Jahren, als ich mit 65 in Pension ging) Ich hätte mir immer gwünscht, die Kinder in ihrem eigenen Tempo lernen zu lassen, habe das aber alleine nicht geschafft. Oft habe ich der halben Klasse eine Arbeit gegeben (ja, durchaus mit Arbeitsblättern oder auch Arbeitsmaterial, das ich meist selbst erstellt habe, weil mir das vorgegebene Zeug oft nicht genug auf die Lernsituation der Kinder passte) und habe dann etwas neues mit der anderen Hälfte besprochen und ausprobiert, weil die Kinder viel besser bei der Sache bleiben konnten, wenn es nicht so viele waren. Ich hatte eine Montessoriausbildung gemacht und mit Begeisterung die Bücher der Familie Wild, die in Equador eine eigene Schule gegründet hatten, gelesen. Leider konnte ich im Rahmen der staatlichen Schule so nicht arbeiten. Aber immerhin konnte ich den Kindern und Ihren Eltern mit Respekt und Mitgefühl begegnen und vielen die Freude am Lernen erhalten. Ich habe den Beruf besonders seit ich in der ersten und zweiten Klasse arbeitete mit Leidenschaft ausgeübt (allerdings hat er mich auch sehr viel Zeit und Kraft gekostet, denn ich wollte ja meinen Vorstellungen und den Kindern gerecht werden). Jetzt bin ich froh, dass ich viel Zeit für mich und meine Familie habe und bin nach wie vor damit beschäftigt mein Haus aufzuräumen, denn das kam vorher viel zu kurz. Ich wünsche Dir weiterhin viel Kraft und Freude in Deiner Arbeit und dass es irgendwann endlich anders und leichter wird.
Ganz liebe Grüße
Sigrid Koska