Die Testergebnisse vor den Füssen. Eine einzige glitzernde Träne in ihrem Augenwinkel, die sich langsam mit dem tonnenschweren Gewicht der Erwartungen der Gesellschaft füllt. Eine Träne, die eine nasse Spur des Versagens auf der Backe hinterlässt, über ihre Lippen rollt, sie verschließt. „Jahre, 11, 12, 13 Schuljahre oder mehr davon, können nicht einfach rückgängig gemacht werden. Wettbewerb hinterlässt Spuren, die nicht einfach ausradiert werden können.“
Ich habe das Gefühl, mit meinen Worten mehr mich selbst zu trösten als sie.
Was ist der Sinn dieses Leidens?
Zwei Drittel meines Lebens war mein Lernen in Klassenzimmern eingesperrt. Es war strukturiert, eingegrenzt und teilweise auch unterdrückt.
Doch meine konventionelle Schulzeit war unterbrochen von einem halben Jahr Homeschooling auf einem Segelboot. Nach dieser Erfahrung habe ich angefangen, den Sinn der Schule zu hinterfragen und irgendwie haben es meine Fragen geschafft in einer sehr unwirtlichen Umgebung zu überleben. Es dauerte jedoch weitere 6 Jahre, die ich eingebunden in das Schulsystem verbrachte, bis ich Menschen fand, die sich dieselben Fragen stellten und die von einer anderen Art des Lernens erzählten, in der nicht Erwartungen, Leistungsdruck und Wettbewerb regierten.
Das ist dies die Geschichte von meiner Auszeit vom normalen Schulalltag und dem großen, über dem Schulsystem schwebende Fragezeichen, das die Reise bei mir ausgelöst hat. Eine Geschichte über die Antworten, die ich gefunden habe.
Sechs Monate auf einem Schiff
Ich war 12 Jahre alt, als ich mit Mama, Papa und meinen beiden jüngeren Schwester nach Südfrankreich, in eine kleine Stadt am Meer aufbrach. Im Gepäck das Reisefieber meiner Eltern, die Sehnsucht nach dem Meer, dem Leben auf dem Wasser und den Wunsch, Zeit für die Familie zu haben. Für ein halbes Jahr durften wir das Segelboot von Freunden ausleihen und es zu unserem zu Hause machen. Nach drei Wochen Reparatur- und Überholungsarbeiten auf dem Trockenen, ging es los auf eine Reise durch das Mittelmeer, bestimmt durch den Wind, die Wellen und andere Wasserreisende.
Wenn ich an die Vorbereitungszeit dieser Reise denke, dann kann ich mich vor allem an die Reaktionen von Freunden und Verwandten erinnern, als sie zum ersten Mal von unserem Vorhaben hörten. Die Reaktionen füllten das ganze Spektrum von:
„Das ist doch viel zu gefährlich. Ihr seid verantwortungslos.“ bis „Ich wünschte, ich hätte die Zeit auch so etwas zu tun.“ Nach erstem Staunen,Überraschung oder Skepsis zogen sich bei fast allen die Augenbrauen zusammen und nach kurzem Überlegen kam die Frage: „Und was ist mit der Schule?“
Ohne die Schule lernte ich effizienter
Die Primarschule, die ich und meine beiden jüngeren Schwestern zu dieser Zeit besuchten, war zu unserem grossen Glück begeistert von dem Vorhaben. Die Lehrer unterstützten uns, wo sie konnten, schrieben detaillierte Listen mit Lernzielen und stellten Ordner mit Aufgaben und Übungen zusammen, sodass wir das Schuljahr nicht wiederholen mussten und wenn alles nach Plan lief, in unsere alten Klassen zurückkehren konnten.
Die Umstellung auf Homeschooling war für mich nicht besonders spektakulär.
Schon davor hatte ich keine Probleme, mich für Dinge zu motivieren, die mich nicht besonders interessierten und kaum jemand musste mich je ermahnen, die Hausaufgaben zu erledigen. Homeschooling war für mich einfach ein wenig mehr Hausaufgaben haben. Doch dafür vertrödelte ich davor nicht schon viele Stunden in der Schule und konnte meine Tagesrationen an Hausaufgaben mit sehr viel mehr Energie und Effizienz bearbeiten, ohne erschöpft zu sein, oder eigentlich endlich ganz andere Dinge tun zu wollen. Schnell fand ich heraus, dass ich den Schulstoff eines ganzen Schultages in knapp drei Stunden packen konnte und danach war der Tag frei. Das war der Beginn vom eigentlichen Leben auf dem Segelboot.
Lernen ohne Zeit und Raum
Zusammen mit meinen Schwestern unternahm ich Entdeckungsreisen mit dem kleinen Schlauchboot, wir erforschten die Unterwasserwelt bis wir blaue Lippen hatten,sammelten Muscheln, Steine, Schwemmholz und Federn und bauten damit ganze Miniaturstädte am Strand oder wir erfanden neue Arten, wie man vom Schiff ins Wasser springen konnte. In einer Umgebung mit endlos vielen Möglichkeiten, zu erforschen, zu spielen und zu erfinden, versanken wir in Fantasiewelten. Unsere komplexen Spiele dehnten sich über Tage aus und veränderten sich zusammen mit der Umgebung wenn wir weiterreisten. Wir hatten unsere eigenen Delfine und Pferde, die zwar durchsichtig waren, doch fest zur Familie gehörten und alle ihren eigenen Namen und Charakter hatten. Unser Ideenreichtum und Fantasie war unerschöpflich und für einmal bestimmte nicht die Schule den grössten Teil des Tages. Für einmal war Schule nicht wichtiger als spielen, Abendessen kochen, ein gutes Buch lesen oder ein Eis essen.
Es gab Reisetage, an denen wir viele Stundensegelten und die Schule ganz ausfallen ließen weil die Zeit dafür einfach nicht da war. Das Rauschen der Wellen, die wiegende Bewegung, das gemächliche Vorankommen, die vorbeiziehenden Hügel und ferne Städte, Navigieren, Segel trimmen und die Aufregung, wenn uns echte Delfine besuchten, ließen keinen Platz für Grammatikregeln und Französischvokabeln. Auch wenn ich oder meine Eltern zur Zeit unserer Reise weit davon entfernt waren, die Begriffe “Freilernen“ oder “Unschooling“ zu kennen, war es doch ungefähr das, was ich für ein halbes Jahr erlebte, abgesehen von den relativ unbedeutenden drei Stunden Hausaufgaben am Morgen.
Die Schule stahl mir meine Zeit
Als ich nach unserer Reise in die sechste Klasse zurückkehrte, stellte ich nach kurzer Zeit fest, dass ich meiner Klasse voraus war. Ich investierte für ein halbes Jahr einen Bruchteil meines Tages in Schularbeiten und war trotzdem voraus. Ich kann mich an mein innerliches frustriertes Schulterzucken und mein äußerliches unsicheres Lächeln erinnern. Irgendetwas war schrecklich unlogisch an der ganzen Sache, doch ich wusste niemanden, der dieses Gefühl mit mir geteilt hätte. So ging weiter zur Schule wie alle andern.
Die Schule stahl mir meine Zeit. Es vergingen weitere drei Jahre, bis ich das, was ich seit der Segelreise mehr unbewusst als bewusst wusste, in Worte fassen konnte:
28.4.13 (9. Klasse): Ich frage mich, was ich da zu suchen habe. Doch ich habe gelernt, dass es besser ist, wenn ich nicht zu fragen anfange. Denn wenn ich frage, dann geht es mir schlecht. Weil ich dann erkenne was an dieser verkrüppelten Schule mit all den beschränkten Lehrern und Schülern alles falsch läuft. Weil ich dann schon wieder feststelle, dass ich den ganzen Schulstoff von einem Montag in einem Drittel der Zeit schaffen würde und danach noch 5 Stunden Zeit hätte, in der noch genug Energie übrig wäre für das, was mir wirklich Spasß macht. Diese Wahrheit tut weh.
In den Oberstufenjahren wurde die Schule für mich zunehmend schlimmer. Ich verbrachte den grössten Teil des Tages in einer Art Schockstarre, erledigte meine Schularbeiten, schrieb gute Noten und verbiss mich in sinnlosen Wiederholungen. Die Lehrer mochten mich alle, obwohl ich mich kaum je im Unterricht meldete. Ich war nie beliebt bei meinen Mitschülern, doch die waren noch weniger beliebt bei mir.
Rückzug ins Schneckenhaus
10.12.13 Alles ist egal. Alles ist langweilig. Und ich bin nie da, wo ich sein will.
26.4.14 Atmen. Schlafen. Aufwachen. Augen schliessen. Herz schliessen. Seele schliessen. DURCH.
Irgendwann in den Sommerferien. Ich wanke in Gedanken zurück durch das vernebelte Tal voller unterdrückter Wut, Hass, Kopfschmerzen und Erschöpfung. Ich weiss nicht, wann und ob es heilen wird.
Ich habe aufgehört mich zu fragen, warum ich mich entschieden habe, diese Jahre in meinem Schneckenhaus einfach auszuhalten und warum ich nicht versuchte, mich davon zu befreien. Vielleicht weil die einzige Alternative, die ich sah, ein anderes genauso graues Schulgebäude mit genauso “beschränkten“ Lehrern und Mitschülern war. Vielleicht weil ich den Weg in die Freiheit nicht kannte, ihn mir nicht einmal vorstellen konnte und es niemanden gab, der ihn mir zeigte.
Erst in den letzten zwei, meiner 12. Schuljahren, habe ich angefangen die Bedeutung von Schule in meinem Leben wirklich zu begreifen. Meine Gedanken schlüpften aus ihrer jahrelangen Verpuppung. Ich entwickelte meinen eigenen Sinn für Freiheit und Unabhängigkeit von einem vorgegebenen Weg oder Erwartungen der Gesellschaft.
Die Welt der Freilerner
Ich habe bis in die tiefste Ritze meines Herzens erfahren, wie grausam Leistungsdruck sein kann, wie viel er in einem Menschen zerstören kann und wie dabei eine roboterhafte und depressionsdurchfressene Generation heranwächst, wo Kreativität, Leidenschaft und Gemeinschaft sein sollte. Doch die wichtigste Erkenntnis, die seit der Segelreise in mir wuchs, durch die Jahre an Klarheit gewonnen hat und die ich jetzt auch nicht mehr unterdrücke, ist:
Die Schule hat mir meine Zeit gestohlen.
Nie wieder in meinem Leben werde ich mir von irgendetwas oder irgendjemandem meine Zeit stehlen lassen!
Stück für Stück entdecke ich die Welt der Freilerner. Ich bin fasziniert und unendlich froh eine neue Familie gefunden zu haben, die mich zwar von Zeit zu Zeit immer noch verwirrt, die mir aber auch viel von der Hoffnung und dem Kampfgeist zurückgibt, die ich an der Staatsschule verloren habe.
Liebe Selina,
wunderschön, was Du erleben durftest. So schade, dass Du dann doch noch unzählige Jahre ausgeharrt hast. Aber ja, alles gehört zum ureigenen Weg und Du wirst vielleicht einmal bei Deinen eigenen Kindern ganz klar auftreten und sie als Freilerner aufwachsen lassen. Ich wünsche es euch von Herzen.
Wir sind nun seit drei Jahren als Freilerner unterwegs und was meine Kinder in dieser Zeit gelernt haben, könnte kein Kinderhütedienst namens Schule ihnen geben. Es wäre gar nicht mehr möglich, sie einzuschulen, da der Kinderhütedienst nicht fähig ist, auf die verschiedenen Fähigkeiten einzugehen. Obwohl es sein Auftrag wäre.
Wir werden unseren Weg so weitergehen, die Zeit, die meine Kinder geschenkt bekommen, ist grossartig und unbezahlbar.
Ich wünsche Dir und Deiner Familie von Herzen alles Liebe und Gute und hey: sind Deine Geschwister auch Freilerner?
Herzlichst Saskia
Das ist eher selten, dass man seiner Schulklasse und Welten voraus ist. Dennoch ist das keine verschwendete Zeit. Ich denke hier an soziale Interaktion usw.
Ich war mit meiner Tochter die ersten zwei Schuljahre auf Reisen. Nur 2Std. lernen in der ganzen Woche und sie war ihrem Jahrgang weit voraus. Wenn die Grundbedürfnisse eines Kindes gestillt sind, lernt es sich leicht und das gelernte bleibt sogar hängen. Im Gegensatz zum stupidem auswendig lernen für Prüfungen. Danke für deinen Bericht liebe Selina.