Über die Feiertage bin ich viel ins Gespräch gekommen – mit Verwandten, Freunden und Bekannten. Als junger Erwachsener wird einem irgendwie immer die gleiche Frage gestellt: „Was machst du eigentlich beruflich?“ und „Wie gefällt dir dein Beruf?“. Wenn ich dann von meiner Tätigkeit als Lernbegleiter an einer Freien Schule erzähle, kommt sehr oft die folgende Reaktion: „Oh, das klingt ja spannend! Aber lernen die Kinder denn auch was?“ Nachdem ich auch diese Frage mit einem etwas längeren Exkurs darüber beantworten kann, wie Kinder sich entwickeln und selbstbestimmt lernen, wirken einige meiner Zuhörer*innen immer noch nicht so ganz überzeugt. Wenn dieser skeptische Blick bleibt, dann weiß ich mittlerweile ganz genau, was für ein Argument kommen wird: „Das klingt ja alles ganz gut, aber ihr habt ja auch eine ganz besondere Schülerschaft. An einer staatlichen Schule, in der auch Kinder aus bildungsfernen und finanzschwachen Haushalten lernen, könntet ihr so ein Konzept wohl nicht durchhalten.“ Und tatsächlich, dieses Argument hat mich gerade zu Anfang meiner Tätigkeit oft aus dem Konzept gebracht. Denn die Schülerschaft an unserer Schule scheint auf dem ersten Blick wirklich recht homogen zu sein: „Biodeutsche“ Kinder von alternativ-grünen Elternhäusern mit seltsamen Namen.
Der Reiz an freien Schulen
Blickt man jedoch genauer hin, bröckelt dieses mit Vorurteilen behaftete Bild schnell. Denn an meiner Schule erleben wir im Moment, dass sich immer mehr Eltern aus nicht-alternativen Milieus für eine Beschulung interessieren und ihre Kinder bei uns anmelden. Gerade für Eltern aus der Mittelschicht stellt eine freie Schule eine ernstzunehmende Alternative zum staatlichen Schulsystem dar. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielseitig. Ein Grund scheint mir besonders deutlich hervorzutreten: Das staatliche Schulsystem stößt mit der Art, das Lernen an den Interessen und Neigungen der Schüler*innen vorbei zu organisieren, immer mehr an seine Grenzen. Besonders gravierend wirkt sich diese Ausrichtung vor allem in den letzten Jahren aus. Denn mit der von der UN-Behindertenrechtskonvention gedeckten Inklusion kommt das staatliche Schulsystem in meinen Augen nicht zurecht. So können Schüler*innen, die offensichtlich andere Bedürfnisse und andere Lern- und Lebensschwerpunkte haben, nicht mehr bequem auf andere Schulformen exkludiert werden. Ministerien und Lehrer*innen müssen nun umdenken – leider beginnt dieser Prozess viel zu spät. Entsprechend werden jetzt Schulen attraktiver, an denen wirklich inklusiv gearbeitet werden kann. Schulen, wie die Freie Schule an der ich arbeite. Wir haben durch unsere offenen Formen und Strukturen die Möglichkeit, uns individuell mit den besonderen und sehr unterschiedlichen Bedürfnissen der Kinder auseinanderzusetzen.
Chancengleichheit an freien Schulen?
So macht es mich manchmal auch wütend, wenn ich immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert werde, dass Freie Schulen im Grunde hermetisch abgeschlossene Biotope für grüne Wohlstandsbürger*innen sind. Die Realität sieht anders aus. Denn auch wir arbeiten mit einer heterogenen Schülerschaft, in der Schüler*innen unterschiedlich lernen und eigene, zum Teil sehr intensive und schwierige Lebensthemen mitbringen. Als Lernbegleiter*innen gehört es zu unserem Selbstverständnis, dass wir versuchen, jedes Kind so zu nehmen, wie es ist. Wir möchten mit dem Kind zusammen an all den Sachen arbeiten, die es zum Ende der Schulzeit beherrschen sollte. Während manche Regelschulkollegen sehr schnell dabei sind, dem Kind eine Schulempfehlung auszusprechen und seinen weiteren Lebensweg dadurch massiv zu beeinflussen, trennen wir unsere Schüler*innen nicht. Sie sind von der ersten bis zur zehnten Klasse zusammen – egal, ob sie sich im Autismusspektrum befinden, hochbegabt sind oder ein ernstzunehmendes Aufmerksamkeitsdefizit aufweisen. Wir versuchen, wirklich jede*n mitzunehmen und zu begleiten.
Das Damoklesschwert der freien Schule
Über diesem hohen Ideal hängt jedoch ein Damoklesschwert: Wir müssen als Ersatzschule in freier Trägerschaft Schulgeld verlangen – anders sind die Kosten für Personal, Gebäude und Sonstiges nicht zu decken. Das führt ganz unweigerlich dazu, dass wir als Schulalternative für einige Elternhäuser nicht in Frage kommen. Auch wenn unser Trägerverein „ärmeren“ Eltern weit entgegenkommen kann, so ist das Thema Geld doch für einige verständlicherweise ein knallhartes Ausschlusskritierium. Meine Eltern hätten mir damals beim besten Willen keinen Besuch an einer freien Alternativschule ermöglichen können – so sehr sie von dem Konzept vielleicht auch überzeugt gewesen wären. Eine Freie Schule ist also erst einmal eine Schule, die man sich leisten können muss. Diesen Umstand jedoch als Argument gegen das freie Schulsystem zu verwenden, ist zynisch. Denn Schulgeld zu erheben ist für uns eine Notwendigkeit, um unsere Kosten zu decken – und nicht, um mit unserem Bildungsansatz groß Geld zu machen. Würde der Schulträger (in meinem Fall das Land Niedersachsen) alle unsere Kosten übernehmen (und nicht nur die Hälfte), müssten wir kein Schulgeld mehr verlangen – wodurch es auch ‚finanzschwachen‘ Elternhäusern möglicherweise leichter fallen würde, sich für eine freie Schule zu entscheiden. Es liegt also in der Hand der Schulträger, auch auf diesem Gebiet für eine echte Chancen- und Wahlfreiheit zu sorgen. Und es liegt in der Hand der Lernbegleiter*innen, immer wieder darauf hinzuweisen, dass wir inklusiv und integrierend arbeiten und das Schulgeld sofort abschaffen würden, wenn wir die Möglichkeit dazu hätten. Mit diesem Argument konnte ich die meisten meiner Verwandten, Freunde und Bekannten dann auch überzeugen.
Zu Patricks letztem Artikel: Von jemandem, der auszog, um sich von der Eigenverantwortung Jugendlicher irritieren zu lassen
Eine Antwort
Mit dem Problem der Vorurteile haben auch die Freilerner zu tun und all jene, die sich für ein selbstbestimmtes Lernen auch außerhalb der Institution Schule aussprechen. ¡Alles nur religiöse Fanatiker … ! Interessant ist, dass die Vorurteilsbehafteten persönlich überhaupt keine religiös fanatischen Freilerner kennen.
Das „Argument“ der Kosten ist wenigstens nicht so schizophren. Schließlich kriegen die Menschen immer wieder zu hören, die schulische Grundbildung sei kostenlos. Was sie natürlich nicht ist; genauso wenig wie die medizinische Grundversorgung und all die anderen so genannten sozialen Leistungen. Rechnete der Einzelne mal nach, würde er schnell feststellen, dass die Verteilung von Geldern nach dem Gieskannenprinzip teurer ist.
Wie man in wenigstens einer kanadischen Provinz – ich glaube, es ist Quebec – sehen kann, Geht das auch ganz anders. Dort bekommen die Familien die ihre Kinder nicht in die Schule schicken, sondern das mit „Homeschooling“ zusammengefasste individuelle Lernen praktizieren, finanzielle Unterstützung „vom Staat“. Der spart nämlich Steuergelder. Und als Randnotiz: Auch religiöse Familien bekommen diese Unterstützung.
Dass die Schulen in freier Trägerschaft trotz der erschwerten Bedingungen einen solchen Zulauf haben, zeigt, gute Ideen setzen sich auch ohne staatlichen Förderwahn durch.
Gruß Matti