„Alle fragen, was will ich werden?
Niemand fragt mich, wer ich bin.“
Lina Maly besingt in ihrem Lied „Wachsen“ gleich zu Beginn den inneren Konflikt, den ich im folgenden Text thematisieren möchte: Das hoffnungsvolle Werden und das unverhoffte Sein – wie kann es sein, dass ich und gemeinsam mit mir viele andere, taub, stumm und orientierungslos die Schule verlassen haben? Dass es immer darum ging, was wir werden möchten, was ohne die Antwort auf die Frage, wer wir sind, gar nicht zu klären ist? Kann das Schulsystem inzwischen stärker die Frage nach der eigenen Identität in den Blick nehmen und zulassen? Und warum wird man eigentlich nach einer rückblickend eher unbefriedigenden Schullaufbahn Lehrerin?
„Alle wachsen, wachsen, doch wer davon blüht auf?“
Malys Frage kann im gleichen Atemzug mit der Frage nach der Entfaltung der eigenen Existenz gestellt werden. Denn nur wer sich selbst erklären kann, warum er auf der Welt ist, kann aufblühen, sich ausdehnen, verwelken und mit der nötigen inneren Widerstandskraft immer wiederkehren.
„Die meisten von uns“, so der Schriftsteller Sergio Bambaren, „sind nicht in der Lage, über ihre Misserfolge hinwegzukommen; deshalb gelingt es uns auch nicht, unsere Bestimmung zu erfüllen. Es ist leicht, für etwas einzutreten, das kein Risiko birgt.“
Erschreckend war das Chaos
Die nötige Risikofreude, um meine Bestimmung zu erkennen, lernte ich in meiner traditionellen Schulausbildung nicht. Auch im Studium lernte ich das nicht. Im Prinzip habe ich in meinem ersten Praktikum gesehen, wie so ein Lernen stattfinden kann – an einer alternativen Schule in Berlin. Erschreckend war das Chaos. Überraschend waren die Selbstbestimmung und damit die erlern- und erlebbare Selbstregulierung. Auch hatten die Kinder genug Zeit, Fehler zu machen. Weil ihnen nicht alles vorgeschrieben wurde, konnten sie die Dinge auf ihre eigene Art und Weise erfahren. Sie empfanden dadurch Lust am Lernen. Das Gespräch trat an die Stelle der Hierarchie. Nicht nur die Lernenden, auch die Lehrenden agierten im Zusammenhang dieser Größen und somit plötzlich auch ich. Ich fragte mich insgeheim, wo ich jetzt wohl stehen würde, hätte ich diese alternative Schulform auch schon als Schülerin durchlaufen.
Warum bin ich hier?
Mittlerweile bin ich immerhin Lehrerin einer solchen Schulform und stelle mich der Herausforderung, mich in geduldiger und vertrauensvoller Begleitung zu üben. Mir geht es vor allem darum, theoretisch sowie praktisch die im Roman „Das Café am Rande der Welt“ gestellte Frage: Warum bin ich hier? gemeinsam mit meinen Mitmenschen zu beantworten: Warum gehe ich überhaupt in die Schule? Warum bin ich hier – auf der Welt? Die Antwort auf die Sinnfrage ist flexibel, immer wieder anders, man erfindet sich immer wieder neu, entwickelt sich. Dass man für die Beantwortung dieser Frage aber ein gewisses Maß an Freiraum braucht, ist logisch. Denn wie soll man herausfinden, wer man ist, wenn man immer nur blind den Anforderungen und Vorgaben anderer Menschen folgt und Angst vor dem eigenen Versagen hat?
Natürlich sollen sie ihren Abschluss schaffen
An unserer Schule versuchen wir den Schülerinnen und Schülern so viel Freiheit wie möglich und so viele Vorgaben wie nötig zu geben. Natürlich sollen sie ihren Abschluss schaffen, jedoch entwickeln sie auch ein eigenes Lerntempo. Sie gehen ihren Interessen nach und probieren individuelle Sozialformen aus. Neben den vorgegebenen Hauptfächern werden Werkstätten und sogenannte Ateliers angeboten, die den Tag durch Musik, Kunst, Tanz, Kochen, Sport und vieles mehr aufbrechen. Zudem findet ein Teil des Unterrichts nicht in der Schule statt: Eine dreiwöchige Herausforderung, sowie eine Woche etwas Neues außerhalb der Schule zu erforschen und kennenzulernen, umrahmen das allseits bekannte vierwöchige Schülerpraktikum.
Mein Studium hat mich kaum vorbeireitet
Als ich an die Schule kam, überraschte mich die Selbstständigkeit und die Planungssicherheit mit denen die Schülerinnen und Schüler ihre Schulwochen ganz eigenständig gestalteten. Es erinnerte mich an die Zeit an der alternativen Schule in Berlin, nach der ich im Studium wieder eine lange Ebbe spürte. Sowohl das Studium, als auch das Referendariat haben mich kaum auf die Anforderungen einer reformpädagogischen Schule vorbereitet, sodass es auch für mich ein ständiger Lernprozess gemeinsam mit allen Menschen der Schule ist.
Doch ich bin überzeugt, dass es der richtige Weg ist: Erziehen und bilden wir die nachkommende Generation so wie mich damals, werden die Kinder die Sinnfrage weiterhin niemals selbstständig beantworten können. Blinder Erfolgsdruck, ständiger Vergleich und unhinterfragte gesellschaftliche Zwänge sind starke Gegner, die traurig machen können, wenn man ihnen nicht gestärkt begegnet.
Eine geöffnete Schule mit reformpädagogischen Ansätzen, stetiger Lust auf Entwicklung und Experiment bleibt für mich deshalb die einzige Option.