Andreas Reinke

Bedürfnisorientierung in der Schule

Freie Wahl oder Anpassung

 Aber in der Arbeitswelt müssen sich Menschen ja auch anpassen. Dieses Gerede über Bedürfnisorientierung in der Schule und Erziehung geht an der Realität komplett vorbei…“So oder ähnlich lauten manche Beschwerden, wenn alternative Perspektiven und daraus abgeleitete Handlungsoptionen in Erwägung gezogen werden. Niemand will aus jungen Menschen Egozentriker oder Tyrannen machen, die selbstgefällig und auf Kosten anderer ein Leben ins Saus und Braus führen. Nie ist mir ein Mensch begegnet, der die Auffassung vertrat, dass Schule den Auftrag habe, Kinder sich selbst zu überlassen beziehungsweise Kindern jeden Wunsch zu erfüllen.

Was ist die Alternative zum (vorauseilenden, bedingungslosen) Gehorsam?

In der Welt des Gegensatzdenkens ist es für gewöhnlich Ungehorsam.

Und schon geht das große Bibbern los. Aus finsteren Ecken kriechen Angst-Gespenster hervor, die Horrorszenarien beschreiben, Chaos und Anarchie prophezeien, die Welt am Abgrund sehen. Meinen wir wirklich, dass es jenen, die heute Horror verbreiten, Chaos verursachen, die Welt an den Abgrund führen, in jungen Jahren an Stringenz mangelte? Hätten sie mehr Schulregeln, Strafen oder Smileys gebraucht?

Die Alternative zum Gehorsam ist nicht Ungehorsam. Die Alternative lautet Verantwortung.

Menschen entwickeln ein Gespür für sich und andere, wenn sie viele Gelegenheiten bekommen, sich im Spannungsfeld aus Integrität und Kooperation zurechtzufinden, auszuprobieren, zu erfahren. Insbesondere dann, wenn sie auf Erwachsene treffen, die, ohne ihre Macht zu missbrauchen, persönliche Rückmeldungen geben und Erwartungen formulieren. Regelmäßig werden aus meinen (und anderen) Gedanken Rückschlüsse gezogen, die antiautoritäres Zeug enthalten. Dagegen möchte ich mich verwehren. Als jemand, der fünfzehn Jahre lang als Lehrer gearbeitet und entsprechende Erfahrungen gemacht hat, trete ich dafür ein, dass wir Lehrer endlich das Kostüm der rollenbedingten Autorität abstreifen, um unseren Schülern als persönliche Autoritäten begegnen zu können. Uns muss beschäftigen, wie wir als Lehrer an unserer persönlichen Autorität und Beziehungskompetenz arbeiten können, anstatt immer wieder neue pädagogische Wunderwaffen zu erfinden. Ich weiß nicht, wie wir darauf kommen, den so heiß ersehnten „Respekt“ wiederzuerlangen, indem wir irgendwelche Ampeln oder Punktesysteme in den Schulalltag integrieren. Es ist durchaus möglich, junge Menschen – zumindest einige Wochen, Monate oder Jahre lang – zu verängstigen und zu konditionieren. Aber eines Tages, sofern sie nicht komplett vom Eigenen getrennt leben – geht es rund. Sie gehen auf Barrikaden, begehren auf, lachen uns aus. Und das ist doch nachvollziehbar. Würde ich jemanden respektieren, der mit gelben, roten Karten oder Sonnenstempeln durch die Gegend fuchtelt? Nein.

Menschen haben das Bedürfnis nach Integrität, Autonomie, Selbstwirksamkeit UND (nicht oder!) sie haben das Bedürfnis nach Kooperation, Gemeinschaft, Zusammengehörigkeit. Wenn wir von Bedürfnisorientierung in der Schule sprechen, sollten wir mindestens vier Aspekte berücksichtigen:

1. Kinder wissen oft, worauf sie Lust haben, nicht jedoch welche Bedürfnisse sie haben. Sie brauchen empathische, authentische und klare Erwachsene, die Nein sagen und sich auch mal unbeliebt machen können.

2. Kinder brauchen Möglichkeiten, das zu entdecken und zu entfalten, was ich mit der (geliehenen) Formulierung „bezogene Individuation“ zusammenfassen möchte. Das heißt, sie brauchen die Erfahrung, ein anerkanntes und respektiertes Mitglied in einer vertrauten und vertrauenserweckenden Gemeinschaft zu sein. Noch einmal: Wir alle haben das Bedürfnis, dazuzugehören. Wenn Kinder “nicht mehr mitmachen“, haben sie sehr wahrscheinlich zu lange mitgemacht. Sie schützen den Rest ihrer ohnehin schon zerfledderten Integrität.

3. Bedürfnisorientierung heißt nicht, dass Kinder immer das machen können, was sie wollen. Bedürfnisorientierung in der Schule heißt nicht, dass sich Lehrer den Wünschen ihrer Schüler unterwerfen. Bedürfnisorientierung heißt nicht „Kuschelpädagogik“. Bedürfnisorientierung heißt: Wir nehmen unsere Bedürfnisse und die unserer Mitmenschen ernst und lernen, verantwortungsvoll mit der menschlichen Natur umzugehen. Und das heißt eben auch, Bedürfnisse parken zu können und die Erkenntnis zu gewinnen, dass man nicht immer alles bekommen kann, was man will. Gleichwohl dürfen Menschen etwas wollen…

4. Menschen bringen sich dann „gut“ ein, wenn es ihnen insgesamt „gut“ geht.

Und wie kann „das“ gehen? Vor dieser Frage stehen heute unzählige Lehrer. Es fehlt ihnen an Vorbildern, Alternativen und Perspektiven. Und wenn sie für sich entdecken, dass es tatsächlich anders gehen kann, sehen sie sich einerseits einem System gegenüber, dessen Strukturen nicht gerade einladen, Beziehungen zu pflegen, und sie sehen sich oft Kollegen gegenüber, die – aus einer Gehorsamskultur stammend – mit harter Hand regieren und junge Kollegen beziehungsweise Veränderungswillige auffordern, sich auf Biegen und Brechen durchzusetzen.

Und gerade diese Kollegen melden sich dann irgendwann ab oder aber sitzen mir (und anderen) im Beratungsgespräch gegenüber, um sich dafür zu geißeln, dass sie zu weich sind. „Zu weich?“, frage ich dann gerne zurück. „Herzlichen Glückwunsch. Du fühlst noch etwas. Und nun lass uns darüber nachdenken, wie du deiner Berufung möglicherweise nachkommen kannst, ohne auszubrennen. Junge Menschen brauchen die Beziehung zu Erwachsenen, die nicht verlernt haben zu fühlen.“

Andreas Reinke – INSPIRATION FÜR ELTERN UND PÄDAGOGEN

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