Kolumne, Teil VII
Acht Schulen. Ein Monat. Tabea erzählt von der Summer Tour 2018.
Heute: Die Freie Aktive Schule Stuttgart
Die Morgenkreise sind jetzt vorbei. Die Freie Aktive Schule Stuttgart hat nur einen festen Termin am Tag. Der Plan für den Tag steht und die Kids wissen über die neuesten Dinge an der Schule Bescheid. Jetzt sind sie frei. Können machen, worauf sie Lust haben.
Mich zieht es zu den Kleinen. Der Primaria. Altersstufenmäßig ist das die Grundschule. Ein Mädchen fällt mir zuerst ins Auge. Sie hat große grüne Augen. Lange lockige Haare. Sie lächelt mich an. Eine große Zahnlücke kommt zum Vorschein.
„Wie heißt du?“ fragt sie mich neugierig. „Warte, ich kann das ja auf deinem Namensschild lesen: T-A-B-E-A. Tabea! Ich bin Ronja*!“ Sie lacht. Ich lache auch. „Was machst du da gerade?“ frage ich sie. Sie hat die bekannten Montessori-Platten in der Hand. Ich muss gestehen, dass ich sie noch nie wirklich in Anwendung gesehen habe.
„Ich will eine Riesenpyramide bauen. Dazu muss ich ganz viele verschiedene
kleine Pyramiden formen, damit ich sie am Ende alle miteinander verbinden kann.“ Sie zählt mir auf, was für Platten man dafür alles braucht. Man fängt bei der Hunderterplatte an und hört bei der Einserplatte auf. „Dann ist man fertig!“
Ronja ist sieben. Ich finde, sie wirkt für ihr Alter schon ziemlich „gebildet“. Ich weiß nicht recht, wie ich das formulieren soll, aber sie wirkt vom Lernfortschritt bezogen auf ihr Lese- und Matheverständnis, mindestens soweit wie jemand von der Regelschule. „Manchmal, da setze ich mich mit Johannes zusammen. Wir machen dann oft Mathe, weil ich das nicht so wirklich mag. Und manchmal, da liest er was vor. Das macht er gaaaaanz toll!“ Johannes ist Ronjas absoluter Lieblingslernbegleiter. Am liebsten ist sie in seiner Nähe und macht was mit ihm. Und Johannes, der kann so erreichen, dass er sie an Dinge heranführt, die ihr sonst nicht so Spaß machen – die aber sinnvoll für später sind. Er ist als Lernbegleiter persönlicher Mentor von 11 Schülern. Da ist Zeit für so etwas.
Die Schule als Dorf
Ich schaue mich im Raum um. Der ist echt groß. Die Schule ist früher mal ein Flüchtlingsheim gewesen.Die Stadt Stuttgart hat es dann der FAS überlassen. Das Gelände ist riesig. Das ehemalige Heim wurde komplett renoviert. Wände eingerissen, es wurde gestrichen, ein riesen Klettergerüst und eine Turnhalle gebaut. Jetzt fühlt es sich bei Weitem nicht mehr so an wie ein Flüchtlingsheim mit engen Gängen und kleinen Räumen. Es fühlt sich vielmehr so an wie ein kleines Dorf. Es gibt ganz verschiedene Häuser. In einem ist die Tertia zu Hause. Ein Haus weiter ist der Kindergarten. Es ist nämlich am leichtesten mit dem Schulkonzept klar zu kommen, wenn man es schon von Anfang an kennt…
Ich bin im Primaria Haus. Im Sonnenzimmer. Er ist gelb gestrichen und mit warmen Farben dekoriert. Es gibt viele Fenster. Eine Couch steht in der Ecke. Und es gibt ganz verschiedene Nischen, in denen Platz zum Lernen ist. Rechts von mir steht ein Tisch mit vielen verschiedenen Kastanien. Daneben ist eine Nische mit einem Teppich, wo viel Montessori Material bereit liegt.
Eine Aktive Schule und eine Demokratische Schule unterscheiden sich vor allem in einem Punkt: An einer Freien Aktiven Schule sind nicht die Kinder, sondern die Erwachsenen für die Lernumgebung verantwortlich.
Sie haben die Entwicklungsbedürfnisse der Kinder im Blick und bereiten für unterschiedliche Interessen verschiedenste Zugänge und Möglichkeiten vor. So bekommen die Kinder von sich aus Lust, sich mit allem möglichen zu beschäftigen und merken dabei gar nicht, dass sie nebenbei ganz viel lernen. Weil es ihnen Spaß macht. Ich schaue Ronja zu. Sie kennt diese Platten, mit denen sie die Pyramide baut, in und auswendig. Dadurch kann sie problemlos bis Hundert zählen. Rechnet zwischendurch aus, wie viele Platten sie noch braucht. Hat ein genaues Bild im Kopf, wie sie die Pyramiden am Ende genau zusammen formen muss.
Während ich mich weiter im Raum umschaue, entdecke ich eine Poststation. Auf dem Schild davor steht „geöffnet“. Ich schaue zu Ronja zurück. Die setzt gerade die letzte Perle auf die Pyramidenspitze. „Fertig!“ ruft sie und klatscht dabei in die Hände. Ich grinse und bemerke einen Schlüsselbund um ihren Hals. Er ist gelb. Am Karabinerhaken hängt ein Schild: das Zeichen der Post. „Sag mal Ronja, bist du Postbotin? Ich würde nämlich gerne einen Brief schreiben.“
„Au ja! Warte noch einen Moment. Ich muss erst alles vorbereiten.“ Ronja setzt sich hinter einen großen, gelb angemalten Pappkarton. Mit schwarzem Stift ist dort das Postzeichen drauf gemalt. Sie schließt das ausgeschnittene Fenster. Um es dann wieder zu öffnen: „Guten Tag! Was kann ich für Sie tun?“ sagt sie mit ihrer süßesten Kinderstimme. „Ich würde gerne einen Briefschreiben.“ „Das macht dann insgesamt 70 Cent! Der Briefumschlag kostet 10 Cent. Zusammen wären das dann, warte…. 80 Cent“ Ich erstarre ein bisschen. Ich habe kein Geld dabei. Schaue mich schnell um, ob ich irgendwo Spielgeld sehe. Auch nicht. Ronja schaut mich erwartungsvoll an.
Kann ich es echt bringen, ihr Luftgeld zu geben? Okay, du hast eh keine bessere Lösung, denke ich mir und überreiche ihr mit einem zögerlichen „Hier“ meine leere Hand. Ronja nimmt wie selbstverständlich die 0,80€ daraus.
Wir Erwachsenen haben manchmal echt die Fantasie und Leichtigkeit verloren.
Briefmarken sind gekauft. Jetzt geht es noch darum, den Brief zu schreiben. Ronja diktiert. Ich schreibe an einen Klassenkameraden. „Hallo Flo! Wie geht es dir? Mir geht es sehr gut. Was machst du gerade? Ich bin im Sonnenraum bei der Post. Diktiert von Ronja. Geschrieben von Tabea.“ Ab in den Briefumschlag.
Stempel auf den Briefumschlag. In den Briefkasten werfen. Der ist auch aus Pappe. Und dann dreht Ronja den Banner an der Tür auf „Geschlossen“ um. Leert den Briefkasten, winkt mir nochmal zu und läuft los. Flo kann irgendwo auf dem Gelände sein. Den muss sie erst einmal finden. 70 Cent zahlt man ja auch nicht umsonst.
* geänderter Name
Tabeas letzter Kolumnenartikel: Von Inspirationen, Integralen und Idealismus (Soziokratische Schule in den Niederlanden)
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