VertrauensBildung – Wege aus der Schulangst

Das Gefühl der Angst

Nach meiner Einschätzung sind viele Lehrer unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle in einer Art Angstblase gefangen, die, trotzdem sie sie daran hindert, gesunde und gesundheitsfördernde Lehrer zu sein, ein gewisses Maß an Sicherheit spendet und Stabilität verleiht. Sie ist der gewohnte Raum, in dem sie sich häuslich eingerichtet haben. Zumeist schon lange, bevor sie Lehrer geworden sind. Wer seit frühster Kindheit immer wieder die Erfahrung gemacht hat, nur unter bestimmten Voraussetzungen dazuzugehören und „gesehen“ zu werden, ist möglicherweise auch als (berufstätiger) Erwachsener anfällig dafür, seine Angst vor Ab- und Zurechtweisungen mit Hilfe derjenigen Überlebensstrategien zu bekämpfen, die bereits im Kindesalter erlernt wurden. Menschen, die aufgrund ihrer Lebenserfahrungen die implizite Überzeugung gewonnen haben, dass sie im Miteinander mit anderen Menschen Gefahr laufen, angegriffen, angefeindet und ignoriert zu werden, werden aller Voraussicht nach auch im beruflichen Kontext regelmäßig auf Verteidigungsstufe „Defcon 1“ gehen, um den „worst case“ zu verhindern. Im Verteidigungsmodus sind im menschlichen Gehirn vor allen Dingen die Areale aktiv, die zuständig sind für Gefahrenabwehr. Im Körper wird unter anderem das Hormon Kortisol freigesetzt, das die Amygdala (Angstzentrum) aktiviert. Wenn der Eindruck entsteht, dass Leib und Seele bedroht sind, gehen innerhalb kürzester Zeit die archaischen Notfallprogramme „online“. Das Gehirn ist, noch bevor der bewusste Denkapparat differenzierte Einschätzungen vornehmen, intelligente Schlussfolgerungen und die Aufmerksamkeit willentlich steuern könnte, ausgerichtet auf Angriff, Verteidigung oder Erstarren (fight, flight, freeze). Archaische Notfallprogramme sind angesichts konkreter Bedrohungen (zum Beispiel durch einen beißwütigen Hund) durchaus sinnvoll und überlebenswichtig. Wenn es eng wird, müssen wir schnell sein. Würden wir „um die Ecke denken“, liefen wir Gefahr, „um die Ecke“ gebracht zu werden. Notfallprogramme können sich jedoch destabilisierend auf Wohlbefinden, Beziehungen und kognitive Fähigkeiten auswirken, wenn Menschen ein Leben führen, in dem es um nichts anderes zu gehen scheint als ums nackte Überleben.

 

 

Ich begegnete in der Vergangenheit Kollegen, denen ihre Arbeit als Lehrer wie ein Überlebenskampf vorkam. Ihr erstes Anliegen schien darin zu bestehen, irgendwie durchzuhalten. So erging es wohl auch Frau Dimmer, die ich eines Tages an ihrem Lehrerspind antraf. Sie hielt einen Brief in der Hand und sagte mit leiser Stimme: „Noch fünfzehn Jahre.“ Ich fragte, was es mit der Angabe „fünfzehn Jahre“ auf sich habe. Etwas gedankenverloren blickte sie auf ihren Rentenbescheid und erklärte: „Noch fünfzehn Jahre bis zur Pension.“

 

Die meisten Lehrer und Nicht-Lehrer meinen, als Professioneller dürfe man ganz einfach keine Angst haben. Das sei unprofessionell und führe zum Autoritätsverlust. Angst gehört nach allgemeiner Denk- und Gefühlsart nicht ins Portfolio eines Lehrers und dürfe keinen Einfluss nehmen auf die Arbeit des guten Wissensvermittlers. Ich kann dieser Einstellung nichts abgewinnen. Mehr noch: Ich halte sie für gefährlich. Zu behaupten, dass Lehrer nicht vom Angstvirus befallen wären beziehungsweise befallen werden sollten, bedeutete meiner Meinung nach, ein allgegenwärtiges Schulproblem zu leugnen, zu verfestigen und zu streuen. Unzählige Lehrer werden von massiven Ängsten geplagt und verstärken diese dadurch, dass sie sie entsprechend erlernter Muster bekriegen, umbenennen, nicht wahr- und annehmen. Sie fürchten sich hinter einem Schutzwall aus Scheinenwollen und zur Schau gestellter Autorität vor kränkenden und konfliktreichen Begegnungen mit Schülern, Eltern, Kollegen, Schulleitern. Aus Angst vor Grenzverletzungen, Autoritätsverlust und Fehlern sind sie eher mit restriktiven Verteidigungsmechanismen, defensiven Präventionsmaßnahmen und aggressiven Fremdzuschreibungen beschäftigt, als sich empathisch der eigenen und nach meiner Überzeugung sehr alten Ängste zuzuwenden. Vor dem Hintergrund alter Prägungen prägen sie heute diejenigen, die in der normopathischen Welt Schule gezwungen sind, sich erwartungsgemäß anzupassen. Schüler müssen sich den Normen und der Definitionsmacht ihrer Lehrer unterordnen.[1] Wenn der Schwimmlehrer der Meinung ist, dass Björn aus der zweiten Klasse eigentlich keine Angst vor dem Schwimmunterricht hat, sondern lediglich „Theater spielt“, um sich „zu drücken“, hat Björn sehr wahrscheinlich mehrere Probleme: Er ängstigt sich auch weiterhin vor dem Schwimmunterricht (und dem Schwimmlehrer); ihm wird nicht geglaubt; er weiß nicht, wie er mit der angstbesetzten Situation umgehen kann; er denkt, dass mit ihm und seinem subjektiven Erleben etwas im Argen liegt. Björn befindet sich in einer Notlage und wäre unbedingt darauf angewiesen, dass ihm mitfühlende Erwachsene Sicherheit spenden. Stattdessen wird er allein dadurch verunsichert, dass ihm die Absicht unterstellt wird, er würde lediglich „Theater spielen“. Möglicherweise wird Björn im Laufe der Zeit lernen, „Theater zu spielen“, „mit dem Strom zu schwimmen“, „sich zusammenzureißen“, seine Gefühle abzuspalten, seinen inneren Impulsen zu misstrauen, sich zu deprimieren („deprimere“: unter anderem niederdrücken). Zum Zwecke der überlebensnotwendigen Anpassung droht sein Selbstwertgefühl („Was weiß ich über mich und wie verhalte ich mich dem gegenüber?“) Schaden zu nehmen.[2]

 

In der Leistungsgesellschaft „Schule“ ist es normal, Ängste zu verharmlosen und / oder über Anpassung, Leistungen oder Maßnahmen zu „zähmen“. Entscheidend ist nicht, wie es den Menschen geht und was sie fühlen. Entscheidend sind die Ergebnisse. Sollte besagter Björn zukünftig am Schwimmunterricht teilnehmen, ohne „Theater zu spielen“, hat der Pädagoge zielgerichtet gehandelt. Damit geht jedoch nicht unweigerlich einher, dass Björn einen konstruktiven Weg gefunden hat, mit seiner Angst umzugehen. Björn wird nicht ewig in der zweiten Klasse bleiben. Irgendwann wird er zwölf Jahre alt sein und unter Umständen dadurch auffallen, dass er Mitschüler verängstigt und unter Druck setzt. „Eigenartig“, werden seine Lehrer sagen, „bisher hat sich Björn doch immer an die Regeln gehalten.“ Dass auffällig gewordene Schüler Krisen auf der existentielle Ebene durchleben, findet in etlichen Schulen entweder kaum Beachtung oder wird kategorisch in Richtung Elternhaus delegiert. Viele pädagogisch Professionelle meinen, dass die Probleme ihrer Schüler nichts mit ihnen und ihren Einflüssen zu tun hat. Schließlich sind sie die Professionellen. Wenn es schief geht, muss es an den Schülern beziehungsweise deren Eltern liegen. Meiner Ansicht nach haben viele Lehrer eine panische Angst davor, vor der eigenen Haustür zu kehren und sich einzugestehen, dass sie auch als Lehrer ganz normale Menschen sind.https://blog.schoolsoftrust.de/warum-lehrer-auch-menschen-sein-muessen/

https://familylab.de/trainer/andreas-reinke/

Reinke, Andreas: VertrauensBildung – Wege aus der Schulangst (erschienen in der familylab-Schriftenreihe)

[1]Die Begriffe „normopathisch“ beziehungsweise „Normopathie“ habe ich von Wolf Büntig übernommen. Zur Normopathie schreibt Wolf Büntig: „Die Unterwerfung unter fremde Normen, deren Sinnhaftigkeit nicht mehr hinterfragt wird, nenne ich (…) Normopathie. Ihre zentralen Merkmale sind normale Depression, Selbstentfremdung und Isolation von der Umwelt.“

[2]Zum Thema „Selbstwertgefühl“ empfehle ich unter anderem folgendes Buch: Juul, Jesper; Jensen, Helle: Vom Gehorsam zur Verantwortung. Für eine neue Erziehungskultur.

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