Warum wir gegen die Schulpflicht verstoßen…
Ein Beitrag einer Mutter, die anonym bleiben möchte und ihre Kinder nicht zur Schule schickt – mitten in Deutschland.
„Ihr seid doch komplett irre!“
Meine Nachbarin schnaubt. Ihre Nasenflügel haben einen seltsamen Knick, wenn sie sich aufregt. Ich bin so beschäftigt damit, den anzusehen, dass ich ihren Anwürfen kaum folgen kann.
Verantwortungslos. Käseglocke. Weltfremd. Ab da schalte ich ab.
Mir fällt dieser Song von Sarah Lesch ein und ich denke „… wenn ihr das Welt nennt, bin ich gern weltfremd.“
Das beruhigt mich. Es stimmt nämlich.
Freilernen! Warum eigentlich?
Wir sind Freilerner. Wir leben in Deutschland. Eines unserer Kinder ist schulpflichtig. Und was wir uns von anderen daraufhin anhören dürfen, ließe mich an der Theorie zweifeln, dass beschulte Menschen sozialer sind, wenn ich das nicht eh schon für Quatsch halten würde.
Aber Moment erstmal. Wie geht das, mitten in Deutschland ohne Schulzwang?!
Erstmal: Wir sind nicht die Einzigen. Es gibt eine Menge Menschen, die ihre Kinder in Deutschland nicht beschulen. Und nein, wir sind keine Sektenanhänger. Wir sind normale Eltern, die davon ausgehen, dass Lernen immer stattfindet (sprich, die, welche die Grundlagen der Neurobiologie verstanden haben) und die ihre Kinder aus verschiedenen Gründen nicht in eine Schule schicken.
Zum Beispiel, weil die Kinder dort leiden. Oder weil sie keine gute Schule finden. Oder weil sie sich den Stress nicht antun wollen für etwas, hinter dem sie nicht stehen. Oder weil sie Gewalt anwenden müssten, um ihre Kinder in eine Schule zu schicken.
Bei uns war es eine Mischung. Mein ältestes Kind hatte im Kindergarten sehr gelitten. Er galt immer als extrem intelligent, aber auffällig. ‚Auffällig‘ still, sensibel, überempfindlich gegenüber Lärm.
Deswegen war er nach einem kurzen Kindergartenversuch bei uns zu Hause. Seine Geschwister auch. Wir waren sehr glücklich mit der Selbstbestimmung, die es uns gab: Aufstehen und Schlafen, wann wir wollen, arbeiten, wann wir wollen, Urlaub, wann wir wollen. Wir groovten uns ein. Wir genossen die Zeit.
Ihn in die Schule zu schicken, kam uns irgendwann absurd vor. Er war glücklich zu Hause, er hasste Lärm und Menschenansammlungen und er lernte so offensichtlich so viel. Zunächst hatten wir Angst – müssen wir unser Kind nun unterrichten? Müssen wir unsere Jobs aufgeben? Was ist, wenn er nicht xy lernt?! Was ist mit sozialen Kontakten?
Dann lernten wir andere Freilerner_innen kennen. Verstanden, dass lernen nicht eine Frage des Zeitpunktes, sondern eine Frage der inneren Freiheit, des Supports und der Möglichkeiten ist, und dass ohne Begeisterung nicht gelernt werden kann. Sprachen mit erwachsenen Menschen, die nie eine Schule besucht haben.
Lasen Gerald Hüther. Lasen Andre Stern. Lasen.
Und ließen unser Kind zu Hause.
Unsere Jobs richteten wir so ein, dass wir die Kinder begleiten konnten. Es war einfacher als gedacht.
Wir hatten das Glück, dass unsere zuständige Behörde einwilligte. Ja, auch das gibt es – Menschen in Behörden mit Herz. Die verstehen, dass ein Kind, dass erstmal diagnostiziert werden müsste, um am Schulalltag teilnehmen zu können, leidet. Dass es nicht leidet, wenn wir es diesem Schulalltag nicht aussetzen. Ja, die sogar verstehen, dass es gar nicht notwendig ist, das Kind dem auszusetzen, weil es mehr Leid als Lernen produziert.
Da sind wir nun. In Deutschland. Ohne Schule.
Hatten wir Angst? Naja, ab und zu. Ja. Oh Gott, ja!
Wenn die anderen Kinder unserem Kind etwas vorrechneten, was es noch nicht konnte. Wenn unser Kind drinnen bleiben wollte, obwohl draußen die Sonne schien. Wenn wir nicht sahen, was das Kind lernte – sondern nur, wie es ’spielte‘ und Dinge tat, die uns unnütz vorkamen.
Das nennt man Deschooling. Diesen Prozess. Wieder zu vertrauen war das Größte, was wir lernen durften mit diesem Kind. Es tut weh – die eigenen Muster und Denkschubladen bezüglich Fehlern tun weh. Es befreit – endlich die ganze Welt mit aller Tiefe kennen lernen und nicht nur Ausschnitte von ihr auf die pädagogische Sinnhaftigkeit prüfen. Und es vertieft alle unsere Beziehungen.
Freilernen ist eine Einstellung zur Welt. Freilernen bedeutet, dass wir einander unterstützen bei unseren immerwährenden Lernprozessen. Dass wir nicht unterscheiden, zwischen lernen und leben – sondern leben und dabei, ganz nebenbei, die Begeisterung kommt.
Und was macht man da so?!
Der größte Feind des Freilernens ist die Angst.
Die Angst davor, was aus dem Kind werden soll. Die Angst vor den Nachbarn, die uns verantwortungslos finden. Die Angst davor, dass wir etwas versäumen.
Immer wenn wir Angst haben, ist Freilernen eine Bürde. Immer wenn wir vertrauen, ist es ein riesiges Geschenk.
Das Blöde am informellen Lernen ist, dass es nicht abfragbar ist. Ich sehe also selten, was mein Kind wirklich lernt.
Manchmal sitzt es spät abends da und malt japanische Buchstaben. Und ich sehe – Wahnsinn, es hat das Prinzip begriffen. Manchmal zeichnet es Karten und ich sehe – Wahnsinn, es weiß, wie man Koordinaten erstellt. Manchmal reisen wir und es beginnt plötzlich, eine andere Sprache zu sprechen.
Da meine Kinder nie zur Schule gegangen sind (was sie natürlich gerne tun können, wenn sie denn wollen), haben sie nie ihre Begeisterung verloren. Sie haben keine Angst vor Fehlern. Ich könnte manchmal weinen – weil ich selber so gerne so begeistert gelernt hätte – wenn ich sehe, wie sie die Welt erleben. Wie sie Dinge versuchen, immer wieder, ohne sich auch nur mit der Idee von ‚Fehlern‘ auseinanderzusetzen. Wie sie nicht unterscheiden zwischen wertvollem und wertlosem Wissen. Wie sie Sternbilder zeichnen, Geocaching machen, Gruppen organisieren, Musik machen und Filme drehen ohne zu unterscheiden: Lerne ich? Oder lebe ich?
Um uns herum gibt es immer mehr Menschen, die leben wie wir. Wir sind vernetzt. Wir reisen. Wir haben Freunde, die verstreut um den Globus leben.
Wir leben anders. Ja. Und ja, das tut oft weh. Viele Menschen hören, wenn wir sagen, dass wir nicht zur Schule gehen: ‚Schule ist scheiße‘. Das sagen wir nicht. Keiner von uns denkt das.
Zu unserem Leben passt sie nicht. Wir haben eine Wahl getroffen. Eine zumindest halblegale Wahl. Eine Wahl des Widerstandes. Eine Wahl, die die Idee von Demokratie braucht: Zivilen Widerstand.
Unser Kind zur Schule zu zwingen würde unsere Beziehung verraten. Es jemals von Bildungsmöglichkeiten (wie z. B: Schule) fernzuhalten, auch.
Wir leben. Das ist alles.
Und deswegen kann ich meiner Nachbarin auch so ruhig zuhören: Was sie für die Käseglocke hält, ist die Welt selber. Was sie für weltfremd hält, ist, glücklich zu sein auf unsere Art.
Wenn ihr das Welt nennt, bin ich gern weltfremd.
Erstes Mal veröffentlicht am 8. OKTOBER 2016 auf der Website:
https://diephysikvonbeziehungen.wordpress.com
3 Antworten
Ich sehe es auch so. Meiner ältester Tochter hat Jahre lang darunter gelitten. Übriggeblieben sind Ängste, Panik Attacken, komplexen etc… Würde gerne mehr darüber erfahren. Liebe Grüße ?