Co-Autorin: Jenny Diener
Seit jeher bilden Jahrgangsklassen ein fundamentales Kennzeichen unseres Schulsystems: Generationen an Eltern haben sich inzwischen daran gewöhnt und hoffen, dass auch ihre Kinder in diesen scheinbar homogenen Clustern aufwachsen. Auch Lehrpersonen selbst haben nie etwas anderes kennengelernt: „Es war ja schon immer so!“
Wie so oft müssen Traditionen und Gewohnheiten nicht immer das Beste sein. Wir blicken durch die Brille des uns Bekannten und übersehen dabei fatalerweise, dass jenes Prinzip der Jahrgangsklasse die Annahme impliziert, die Lerngruppe setze sich aus Kindern mit einem Entwicklungsstand und einer Leistungsfähigkeit zusammen. Wir gehen von einem homogenen Umfeld aus und leiten schließlich ab, dass ein gleich- und kleinschrittiger Unterricht am lernwirksamsten sei (vgl. Moll-Strobel 1998). Diese Idee der Gleichberechtigung suggeriert Gleichheit; man gibt jedem das Gleiche. Das funktioniert allerdings nur, wenn auch alle Lernenden die gleichen Voraussetzungen haben. Jedoch unterscheiden Kinder sich bzgl. ihres Entwicklungsalters bereits zu Schuljahresbeginn um drei bis vier Jahre (vgl. Largo & Beglinger 2010). Zu diesen entwicklungsbedingten Unterschieden kommt ferner noch hinzu, dass die angenommene Altershomogenität schon alleine aufgrund der innerhalb eines Jahrgangs durch verspätete Einschulungen, begabte Kann-Kinder[1] oder Klassenwiederholungen ein totaler Irrtum ist. Übrigens weitet sich der Entwicklungsunterschied im Laufe der Zeit massiv aus und aus den drei bis vier Jahren bei den Erstklässlern werden bei den Dreizehnjährigen nun sogar schon sieben bis acht Jahre (vgl. ebd.). „Menschen werden also nicht gleicher, je älter sie werden, sondern verschiedener. Und vor allem: Ihre Verschiedenartigkeit ist der Normalfall!“ (Peschel 2011, S. 4).
Das Jahrgangsprinzip lässt also verschiedenste Lernstandsunterschiede unberücksichtigt und folgt dem Irrglauben, dass Gleichberechtigung und die daraus gewachsene Gleichbehandlung automatisch zu einer höheren Gerechtigkeit führen. Aufgrund gleicher Rechte (z.B. dem Recht auf Bildung) sollten – so das illusionistische Wunsch- denken – alle Schüler gleichbehandelt werden, da sie ja eben alle gleichberechtigt sind.
Quelle: YoungCaritas
Aus dieser gleichen Behandlung – in der Karikatur in Form des gleichen Hockers als Unterstützung für alle Kinder repräsentiert – sollen vermeintlich gleiche Chancen für alle folgen. Doch Schüler und Menschen im Gesamten reagieren anders: Jeder Mensch ist unterschiedlich und verschieden – mit eigenem Lebensentwurf, individuellen Stärken, individuellen Schwächen und Anlagen. Durch die Gleichbehandlung entsteht Ungerechtigkeit. Voraussetzungen und unterschiedliche Lebensrhythmen werden, ähnlich wie im Bild, nicht beachtet. Warum also alle gleich behandeln?
Gleichbehandlung ist nicht Gerechtigkeit! Letztere entsteht dann, wenn wir die Unterschiede und die Lebensgeschichte der Einzelnen beachten, als potentielle Hindernisse der Teilhabe identifizieren und individuelle Lösungen suchen, die wirklich jedem Einzelnen gerecht werden! Das führt zu Prozessen der Individualisierung bis hin zu wirklich schülerorientierten Formen des Lernens, wie wir sie in demokratischen Schulen erleben können. Hier kann sich jedes Kind – um den Bezug zur Karikatur wiederaufzunehmen – den Hocker aussuchen, den es gerade am ehesten braucht.
Die gesellschaftliche Einrichtung „Schule“ versucht eine formale Gleichbehandlung aller Kinder im schulischen Kontext – kausal begründet aus der juristischen Gleichheit – unter anderem durch die Jahrgangsklassen. Beweggründe für deren Überwindung sollten aus diesen Gedanken bereits deutlich geworden sein: Im Unterricht kennt ein Drittel den Stoff bereits, ist gelangweilt und verhält sich deshalb laut. Ein anderes kommt nicht mit und wird deshalb schnell unruhig. Und das Drittel, für welches das Niveau am ehesten richtig wäre, kann nicht lernen, weil die anderen zu laut sind![2]
Eine Altersseparation suggeriert Homogenität, wohingegen produktiv nutzbare Heterogenität selbst die Gleichaltrigen bereits unterscheidet. Wird die Schere noch größer gemacht, stechen individuelle Persönlichkeiten viel deutlicher hervor. Es gibt darüber hinaus noch weitere didaktische und pädagogische Gründe, die für einen Unterricht in altersgemischten Klassen (besser: Lerngruppen oder sogar Lernfamilien) sprechen:
1. Das Lernen von Verantwortung: Aus pädagogischer Sicht lässt sich betonen, dass die Übernahme von Verantwortung unabdingbar für eine gesunde kognitive (und emotionale) Entwicklung des Kindes ist: Ein älterer Lerner ist dafür verantwortlich, nicht nur sein Wissen und seine Fähigkeiten, sondern gerade auch erlernte Rituale und Regeln an die Neulinge der Gruppe weiterzugeben. Jeder Heranwachsende erlebt sich als Hilfe anbietendes und annehmendes Kind, lernt zu geben, aber auch zu nehmen. Unterschiede werden als natürlich empfunden und produktiv genutzt, um soziale und kognitive Kompetenzen zu entwickeln. Selbstvertrauen und -konzept erfahren so eine ungeheure Stärkung, und Kinder lernen liebevoll und fürsorglich miteinander umzugehen (vgl. Stähling 2013).
2. Befreiung von sozialem Druck: Das lediglich als sozial stigmatisierend sowie isolierend nachgewiesene „Sitzenbleiben“ oder die jahrgangstypische Klassenwiederholung wären natürlicherweise ausgeschlossen und weichen einem individuell gestalteten Aufrücken in weiterführende Gruppen. Auch die künstlich auf (überwiegend) gleiche Altersgruppen beschränkten „Zwangsbegegnungen“ (Stähling 2013, S. 116) zwischen den Kindern einer Altersklasse gehörten somit der Vergangenheit an. Diese Zwangsbegegnungen lassen die Jugendlichen schnell merken, dass sie alle „gleich“ sein sollen bzw. müssen und lösen dadurch ein ständiges Vergleichen im Wettbewerb aus. Gruppenzwänge und negative Gruppenidentitäten bzw. -dynamiken tun ihr übriges. Am Ende sozialisieren wir Einzelkämpfer, die nicht in der Lage sind zu kooperieren. Das ist fatal – oder um es mit dem berühmten Physiker Werner Heisenberg zu sagen: Wissenschaft entsteht im Gespräch!
3. Durchs Lehren lernen: Blickt man auf didaktische Gründe, so ist zunächst das Multiplikatorensystem hervorzuheben: So ergründen die Schüler nicht nur das Lernen selbst, sondern ordnen beim Erklären Inhalte neu, strukturieren diese nachhaltig und reduzieren sie didaktisch, um auf eine tiefere Ebene des Verstehens und Begreifens zu gelangen (vgl. Hinz & Sommerfeld 2004). Jene Schülermitverantwortung greift individuelle und gemeinsame Interessen der Kinder auf und lässt sie im Unterricht gezielt zu. Interessenbasiertes Lernen motiviert mehr und ist so nachhaltig lernwirksamer, eigene Bedeutsamkeiten können ausgehandelt werden (vgl. Kunter & Trautwein, 2013). Schließlich ist gerade die Differenz zwischen den Kindern die Chance und der Motor zum individuellen Lernen, welches nachhaltig wirksam und effektiv für alle Beteiligten ist: Jedes Kind bringt seine Vorerfahrungen und -kenntnisse mit ein. Letztlich können alle profitieren, wenn Kinder von- und miteinander lernen, gemeinsame Projekte stemmen und so „über die Erfahrung des gegenseitigen Helfens didaktische und soziale Lerngelegenheiten miteinander verknüpft werden“ (Hinz & Sommerfeld 2004, S. 172).
4. Vorbereitung auf das echte Leben: Zu guter Letzt lohnt sich der Blick über den schulischen Tellerrand auf das Leben (auf welches die Schule ja schließlich vorbereiten soll). Bereits im Studium oder in der Lehre trifft man selten auf rein altershomogene Gruppen. Und außerhalb von Schule und Studium arbeitet man schließlich nie wieder nur mit Gleichaltrigen. Stattdessen muss man lernen, mit Generationsunterschieden umzugehen und sich auf unterschiedliche Bedürfnisse und Perspektiven einzustellen – und zwar am besten möglichst früh.
Letztlich sollte all dies keine organisatorische oder schulpolitische Frage, sondern eine pädagogisch-didaktische Entscheidung sein, die eine bestmögliche Entwicklung und eine lernwirksame Zukunft der Kinder in Aussicht stellt. Beim Nachfragen, Denken und Planen richten wir unseren Blick viel zu sehr auf unsere eigenen (festen und zu selten hinterfragten; vgl. die einleitenden Worte) Gewohnheiten, „Wehwehchen“, Sorgen, Nöte, Ängste und Bedenken: „Jahrgangsübergreifenden Unterricht ist er nicht gewöhnt“; „Sie hat bisher nur Unterricht für Klasse 1 oder 3 geplant, dieses Übergreifende kennt sie so gar nicht…“ – es geht doch aber eigentlich darum, den Kindern das/ihr Recht zugeben, zu entscheiden, mit wem sie (wo, wann, was) lernen wollen. Dann ist es übrigens gar nicht so unwahrscheinlich, sogar höchst wahrscheinlich, dass die Schüler sich selbst unter anderem auch(!) gleichaltrige Gruppen suchen. Sie diskutieren über das Leben, die Politik oder aktuelle Filme, gehen in Experimenten physikalischen Phänomenen auf den Grund oder gründen eine Band. Dabei werden sie bewusst Gleichaltrige aufsuchen, um in entsprechenden Peer-Groups Austausch, Anschluss und Vergleichspunkte zu finden – aber eben nicht nur mit Gleichaltrigen! Und das ist das Entscheidende!
Stella Serger, die die Kapriole in Freiburg besucht hat, erzählte uns in diesem Zusammenhang beispielsweise von “Stammgruppen” (mit Erstklässlern) und “Nestern” (für die 4.-7. bzw. die 8.-10. Klasse). Die zuletzt genannten Altersklassen brauchen Rückzugsräume für sich und fordern diese auch ein. Dort steht aber nicht unbedingt das (schulische) Lernen an sich im Vordergrund, sondern die Schüler treffen sich, um rumzuhängen, Filme zu schauen oder über bestimmte Themen zu reden und diskutieren. Und die Erstklässler, die ja meist noch nicht lesen konnten, brauchen ihre “Stammgruppen”, um die Angebote vorzustellen oder sich dabei zu unterstützen, sich in einer großen, für sie neuen, bunten Schule zurecht zu finden – und gerade dabei ist die Altersmischung Gold wert. Die Kleineren können hier von den Größeren lernen, auf ihre Erfahrung und Hilfe bauen. Gleichzeitig haben (und brauchen) die Großen aber auch die Möglichkeit, sich zurückzuziehen!
Unser Problem ist, dass wir bei all diesen Überlegungen jedoch das Wesentliche aus dem Blick verlieren: Wir sind Pädagogen. „Pädagogik“, aus dem Griechischen kommend, nimmt das Kind in den Mittelpunkt, das (wörtlich genommen) bei seiner Entfaltung begleitet werden sollte – Heterogenität ist dabei eine tolle Chance – zum Wohle der Kinder!
[1] Kann-Kinder sind solche Kinder, die noch nicht schulpflichtig sind, aber auf Antrag der Eltern frühzeitig in die Grundschule aufgenommen werden. Aufgrund ihrer Entwicklung wird angenommen, dass sie „mit Erfolg am Unterricht des 1. Schuljahres teilnehmen werden“ (https://grundschule.bildung-rp.de/uebergaenge/vorzeitige-einschulungzurueckstellung-vom-schulbesuch.html)
[2] Frei nach Gerald Hüther