Schülerinnen und Schüler können ihre Aktivitäten an unserer Schule frei wählen, wir zwingen sie nie zum Unterricht — doch das bedeutet nicht, dass man tun kann, was man will. In diesem Blogeintrag erkläre ich, wie wir an einer Demokratischen Schule mit Regelbrüchen umgehen, wie wir eine Kultur des gegenseitigen Respekts pflegen, und wie wir unsere Schulgemeinschaft gegen zerstörerisches Verhalten schützen.
Derzeit haben wir 247 Regeln in unserem Regelbuch, alle Regeln sind irgendwann in den letzten 20 Jahren in der Schulversammlung beschlossen worden. Die Schulversammlung trifft sich wöchentlich. Alle Schüler*innen und Mitarbeiter*innen können teilnehmen und haben je eine Stimme, Beschlüsse benötigen einfache Mehrheit. Jeder kann neue Regeln vorschlagen oder die
Änderung alter Regeln beantragen. Der Vorschlag wird dann diskutiert und steht in der folgenden Woche zur Abstimmung. In der Schule sind mehrere Kopien des Regelbuchs verfügbar.
Alle Schüler*innen und Mitarbeiter*innen müssen die Regeln im Regelbuch befolgen. Wird eine Regel gebrochen, kann jede*r Schüler*in und Mitarbeiter*in eine Beschwerde ans Justizkomitee schreiben — man muss aber nicht. Wenn jemand nicht schreiben kann, können sie andere Kinder/Jugendliche/Mitarbeiter um Unterstützung bitten.
Ein Beispiel: Das Justizkomitee in Aktion
Namen und Details in diesem Beispiel sind erfunden, aber ähnliche Situationen gibt es an unserer Schule oft: Joana (5 Jahre alt) und Jeremy (6) spielen mit Holzklötzern im Großen Raum. Einige Jugendliche sitzen auf der Couch und reden über die Band Twenty One Pilots. Nach einiger Zeit gehen Joana und Jeremy nach draußen, um auf der Wiese fangen zu spielen. Ich komme in den Großen Raum und sehe die Holzklötzer auf dem Boden. Ich frage die Jugendlichen ob sie gesehen haben, wer mit den Holzklötzern gespielt hat. Tim und Tina sagen, es waren Joana und Jeremy. Ich erinnere mich, dass es eine Regel gegen Unordnung gibt, sie lautet:
C2. UNORDNUNG. Jede*r muss seine/ihre Sachen aufräumen, bevor er/sie sich mit etwas anderem beschäftigt. Niemand darf Müll oder Unordnung hinterlassen (ergänzt am 22.11.2005). Jede Person, die Gegenstände benutzt, die jemand anderes vorher benutzt hat, ist ebenfalls für das Aufräumen dieser Gegenstände verantwortlich (ergänzt am 15.10.2008). Wenn du einen Bereich benutzt, musst du ihn vollständig aufräumen wenn du fertig bist, sogar wenn er vorher unordentlich war (ergänzt am 27.5.2015).
Ich denke nach. Ich könnte…
- es selbst aufräumen
- nichts tun
- später wiederkommen, um zu sehen ob Joana und Jeremy aufgeräumt haben
- Joana und Jeremy suchen und sie an die Unordnungsregel erinnern
- eine Beschwerde ans Justizkomitee schreiben
Ich entscheide mich für Option Nummer vier, doch eine halbe Stunde später sind die Holzklötzer immer
noch auf dem Boden verstreut. Also schreibe ich eine Beschwerde ans Justizkomitee (siehe Bild) und werfe sie in den Beschwerdebriefkasten.
Das Justizkomitee (kurz JK) trifft sich jeden Tag um 11 Uhr und besteht aus sechs Schüler*innen zwischen 5 und 18 Jahren und einem/einer Mitarbeiter*in. Die Sitzungen werden von zwei JK-Beauftragten geleitet, die viermal im Jahr gewählt werden. Schüler*innen und Mitarbeiter*innen können sich für alle Ämter zur Wahl stellen, z.B. für Anwesenheitsbeauftragter, Finanzbeauftragter, und auch für die Position des JK-Beauftragten. Die Position der JK-Beauftragten und des Schulversammlungsvorsitzenden wird seit vielen Jahren von Schülern besetzt. Die restlichen Mitglieder des Justizkomitees werden wöchentlich von den JK-Beauftragten ausgewählt, das heißt alle Schüler*innen, auch die fünfjährigen, wirken etwa zwei Wochen pro Schuljahr im Justizkomitee mit; die Mitarbeiter*innen verteilen sich auf feste Wochentage.
Jede Beschwerde wird in drei Phasen vom Justizkomitee bearbeitet: Untersuchung, Anklage, Konsequenz. Es wird versucht, alle Beschwerden zu bearbeiten, die sich angesammelt haben — das dauert normalerweise etwa eine Stunde, aber ich habe auch schon Justizkomitees gesehen, die drei Stunden gedauert haben, weil mehrere komplizierte Fälle behandelt wurden. Die JK-Beauftragten leiten die Sitzung. Wer sprechen möchte meldet sich und bekommt von den JK-Beauftragten das Wort. Damit Du dir eine bessere Vorstellung von so einem Justizkommittee machen kannst, hier ein fiktives Beispiel:
BESETZUNG
Das Justizkomitee: JK-Beauftragte Carl (15 Jahre) und Cassy (17), Mitarbeiterin Stefani (43), und Schüler*innen Naomi (9), Betty (8), Dave (5), und Brandon (11). Beschwerdeführer: Alex (31). Zeugen: Tim (15) und Tina (16). Die Angeklagten: Joana (5) und Jeremy (6).
Schritt I: UNTERSUCHUNG
[Cassy und Carl rufen das Justizkomitee in den Raum, alle sitzen um einen großen Tisch. Cassy öffnet
den Beschwerdebriefkasten, nummeriert die Beschwerden und entscheidet, in welcher Reihenfolge sie bearbeitet werden.]
CASSY: Ich eröffne das Justizkomitee. Ich lese jetzt die erste Beschwerde [liest laut vor]
CARL: Naomi, kannst du bitte Alex holen?
[Naomi holt Alex, beide kommen zurück. Cassy schreibt das Datum und die Namen der Komiteemitglieder auf das Beschwerdeformular]
CASSY: Alex, du hast gegen Joana und Jeremy eine Beschwerde geschrieben, weil sie Unordnung hinterlassen haben. Hast du etwas hinzuzufügen?
ALEX: Nein.
CARL: Hat das Komitee irgendwelche Fragen an Alex? [Schaut ob es Meldungen gibt. Niemand meldet sich] … Ich sehe keine Meldung. Alex, du kannst gehen. Brandon, holst du bitte Joana und Jeremy?
[Alex geht, Brandon geht, kommt mit Joana und Jeremy zurück]
CASSY: Joana und Jeremy, Alex hat euch wegen Unordnung angezeigt. Habt ihr gestern im Großen Raum die Holzklötzer liegen lassen?
JOANA: Ja.
JEREMY: Hmmm.. Ich erinnere mich nicht.
[Cassy schreibt Joanas und Jeremys Aussagen auf das Beschwerdeformular]
CASSY: Weitere Fragen an Joana und Jeremy? … Ich sehe keine Meldung. Joana und Jeremy, bleibt bitte hier. Brandon, holst du bitte Tim und Tina?
[Brandon geht, kommt mit Tim und Tina zurück]
CARL: Tim und Tina, habt ihr gesehen wie Joana und Jeremy gestern die Holzklötzer im Großen Raum liegen lassen haben?
TIM: Ja ich habe sie gesehen. Sie haben mit Holzklötzern Burgen gebaut und sind dann rausgerannt, ohne aufzuräumen.
TINA: Ja, sie haben die Klötzer dort liegen lassen.
CARL: Jeremy, hast du die Klötzer liegen lassen?
JEREMY: Ähhm, ich glaube schon…
[Cassy schreibt Jeremys Aussage auf das Beschwerdeformular]
CARL: Weitere Fragen an Tim and Tina?
BRANDON: Warum hast du Joana und Jeremy nicht gesagt, dass sie es aufräumen sollen?
TIM: Es gibt keine Regel, dass ich anderen eine Regel erklären muss. Klar, ich hätte es tun können, aber ich war mit anderen Sachen beschäftigt.
CARL: Weitere Fragen an Tim und Tina? … Ich sehe keine, ihr könnt gehen.
[Tim und Tina verlassen den Raum
Schritt II: ANKLAGE
CARL: Ich beantrage die Anklage „C2: Unordnung“ für Joana und Jeremy. Gibt es weitere Anträge? … Ich sehe keine. Möchte jemand separat für Joana und Jeremy abstimmen? … Ich sehe niemand. Wer ist für die Anklage C2 für Joana und Jeremy? Zur Erinnerung: nur Komiteemitglieder können abstimmen.
[Carl, Cassy, Naomi, Betty, Brandon und Stefani melden sich]
CARL: Wer ist dagegen?
[Niemand meldet sich]
CARL: Enthaltungen?
[Dave meldet sich]
CARL: Sechs – Null – Eins. Joana und Jeremy, wie plädiert ihr? Ihr könnt „schuldig“, „keine Einwände“ oder „nicht schuldig“ plädieren. Wenn ihr „nicht schuldig“ plädiert, geht der Fall zur Schulversammlung, die eine endgültige Entscheidung treffen werden, ob ihr schuldig seid oder nicht.
JOANA: Schuldig.
JEREMY: Keine Einwände.
[Cassy schreibt Joanas und Jeremys Plädoyers auf das Beschwerdeformular]
Schritt III: KONSEQUENZ
Bildunterschrift: JK-Beauftragte in einer kurzen Pause
CASSY: Wer hat einen Vorschlag für eine Konsequenz? Zur Erinnerung, jede*r kann Vorschläge machen, auch ihr beide Joana und Jeremy.
[Stefani, Brandon, Naomi und Jeremy melden sich]
STEFANI: Jeremy und Joana müssen helfen, wenn der Große Raum das nächste Mal geputzt wird.
BRANDON: Jeremy und Joana können heute und morgen nicht in den Großen Raum gehen.
NAOMI: Eine Woche Schulverbot für beide.
JEREMY: Eine Warnung für uns beide.
[Cassy schreibt alle Konsequenzvorschläge auf die Rückseite des Beschwerdevorschlags]
STEFANI: Naomi, ich glaube dein Vorschlag ist zu streng. Ich denke, Schulverbot ist eher für schwerwiegende Fälle, zum Beispiel wenn jemand jemanden anderes schlägt oder beschimpft.
CARL: Jeremy, ich glaube eine Warnung ist nicht genug. Ihr beide seid schon seit einem Jahr hier an der Schule, ihr wurdet schon mehrmals wegen Unordnung angezeigt. Ihr kennt also ihr die Regel, dass man keine Unordnung hinterlassen darf.
CASSY: Gibt es weitere Vorschläge oder sind wir bereit zur Abstimmung? Zur Erinnerung, jede*r kann seinen/ihren Vorschlag noch ändern oder zurückziehen.
NAOMI: Ich ziehe meinen Vorschlag zurück.
CASSY: Ok, wir haben drei Vorschläge. (1) Jeremy und Joana müssen helfen, wenn der Großen Raum das nächste Mal geputzt wird. (2) Jeremy und Joana können heute und morgen nicht in den Großen Raum gehen. (3) Eine Warnung für beide. Zur Erinnerung: Bei der Abstimmung für Konsequenzen gibt es keine Enthaltungen. Man muss für einen Vorschlag stimmen und gegen die anderen. Nur Komiteemitglieder können abstimmen. Wer ist für (1), beim Putzen helfen?
[Stefani und Dave melden sich]
CASSY: Wer ist dagegen?
[Cassy, Carl, Brandon, Naomi und Betty melden sich]
CASSY: Wer ist für (2), die Raumsperre?
[Cassy, Carl, Brandon, Naomi und Betty melden sich]
CASSY: Wer ist dagegen?
[Stefani und Dave melden sich]
CASSY: Wer ist für (3), die Warnung?
[Niemand meldet sich]
CASSY: Wer ist dagegen?
[Alle melden sich]
CASSY: Die Konsequenz Nummer zwei ist Beschlossen, „Jeremy und Joana können heute und morgen nicht in den Großen Raum gehen.“ Jeremy und Joana, versteht ihr eure Konsequenz?
JEREMY: Ja.
JOANA: Ja.
CARL: Denkt daran, die Konsequenz auf der Übersichtsliste durchzustreichen, wenn ihr sie erledigt habt. Jeremy und Joana, ihr könnt gehen. Wir haben noch zwei weitere Beschwerden. Ich lese jetzt die nächste […]
ENDE
Nach der Sitzung des Justizkomitees heften die JK-Beauftragten die Beschwerden ab, tragen alle Konsequenzen in einer elektronischen Tabelle ein und bringen die öffentlich aushängende Übersicht aller derzeitigen Konsequenzen auf den neuesten Stand. Wir haben keine Polizei, die sicherstellt, dass alle ihre Konsequenzen auch befolgen. Es liegt in der Verantwortung des Schülers/der Schülerin, seine/ihre Konsequenzen zu kennen und zu befolgen. Die Mitarbeiter*innen versuchen, ein Auge auf die Übersicht der Konsequenzen zu haben und bieten besonders neuen und jungen Schüler*innen ihre Unterstützung an. Man kann dafür angezeigt werden, dass man seine Konsequenz nicht befolgt. – Man darf das Schulgelände nicht verlassen bzw. nicht auf Schulausflüge fahren wenn man Konsequenzen nicht abgeschlossen hat, die mehr als fünf Tage alt sind. (normalerweise dürfen Schüler*innen die 13 Jahre und älter sind das Schulgelände für kurze Ausflüge selbständig verlassen).
Doch was ist der Grund hinter diesem komplexen System eines Justiz-Kommittees? Was lernen die Kinder dadurch? Und gibt es an unserer Schule ein Gefängnis für die ganz harten Fälle?
Diesen Fragen werde ich im zweiten Teil auf den Grund gehen. Also, bis nächste Woche Freitag!
[Anmerkung: Dies ist ein fiktives Beispiel, es enthält meine persönliche Vorstellung davon, wie unser Justizkomitee die Sache bearbeiten würde. Ich behaupte nicht, dass das die offizielle Verfahrensweise der Diablo Valley School oder des Sudbury-Modells ist. Dieser Artikel bezieht sich generell auf die Diablo Valley School in Concord, CA, USA und wurde 2017 auf dem Blog https://alexandermueller.org/veröffentlicht)
Alexander Müller ist Mitarbeiter an der Demokratischen Schule X in Berlin. Er schreibt über seine Erfahrungen in selbstbestimmter Bildung auf dem Blog: https://alexandermueller.org.
Wenn ihr Patricks letzten Artikel über die Wichtigkeit des Regelwerks an seiner Schule verpasst habt, schaut hier vorbei: Von jemanden, der auszog, um Regeln an einer Freien Schule einzufordern
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