„Ihr habt ja extrem viele Regeln hier! Das hätte ich von einer freien Schule so nicht erwartet. Es erinnert mich doch eher an meine Schulzeit.“
Ich habe gerade meinen Rundgang mit einer Hospitantin beendet und blicke nun in ihr fragendes Gesicht. Ich muss schlucken. „Sie hat Recht“, denke ich mir, „wir haben tatsächlich sehr viele Regeln hier…“. Ich bin verunsichert, gebe ihr nach kurzer Bedenkzeit aber eine – hoffentlich – souveräne Antwort und verabschiede mich von ihr. Ihre Anmerkung begleitet mich noch einige Zeit nach ihrem Besuch. Ich laufe durch die Schule und ertappe mich selbst dabei, wie ich permanent Regeln einfordere: „Nein, hier wird nicht getobt“, „Spielt bitte dort drüben, hier ist der Ruhe- und Lernbereich“, „Ihr wisst doch, im Ruheraum darf nur geflüstert werden“. Ich komme mir dabei manchmal vor wie der strenge Schulmeister, der unerzogene Kinder zur Ordnung rufen muss. Und ich muss zugeben, dass ist eine Rolle, die ich ungern ausfülle.
„Halte dich an die Regeln“
Besonders in den unteren Jahrgängen macht das Einfordern von Regeln einen Hauptteil unserer Arbeit aus. Die Kinder an unserer Schule müssen schon früh lernen, sich in einem pluralen sozialen Gefüge zurechtzufinden. Anders als an einer Regelschule befinden sie sich nicht hauptsächlich in einer Gruppe aus Gleichaltrigen, die von einer überschaubaren Anzahl Erwachsener betreut und überwacht wird. Vielmehr treffen sie in ihrem Alltag immer wieder auf ältere und jüngere Kinder, spielen und streiten sich mit ihnen. Auch die erwachsenen Bezugspersonen variieren immer mal wieder. Jede*r kennt jede*n an unserer Schule – das führt neben spannenden und wertvollen Situationen und Interaktionen auch oft zu Streit. Denn je unterschiedlicher die jeweiligen Personen sind, desto größer ist das Konfliktpotenzial. Es braucht deshalb eine Vielzahl von Regeln, die das Zusammenleben an unserer Schule überhaupt ermöglichen. Ohne diesen Rahmen müssten Regeln immer wieder aufs Neue verhandelt werden, was zwangsläufig zu willkürlichen und undurchschaubaren Entscheidungen und Verhaltensweisen für Kinder sowie Erwachsene führen kann.
Regeln: Es kommt auf die Kommunikation an
Wir als Erwachsene finden uns nun oft in der Situation wieder, dass wir an Regeln erinnern und deren Einhaltung fordern müssen. Mehrmals am Tag. Derweil – und das ist auch gut so – sind unsere Schüler*innen sehr pfiffig was die Dehnung dieser Regeln angeht. Selten sind sie bei „Fehlverhalten“ sofort einsichtig. Vielmehr versuchen sie mit allen Mitteln der Überzeugungskunst, eine Ausnahmeregelung von den Erwachsenen zu erwirken. Dabei spielt ihnen oft in die Hände, dass wir eine Vielzahl von Regeln haben, die selbst ein Erwachsener nicht immer auf dem Schirm hat. Die gewünschte Klarheit der Regeln, die ich einige Zeilen weiter oben noch als so wichtig für das Zusammenleben an unserer Schule hervorgehoben habe, weicht dann plötzlich dem offenen Aushandeln von Regeln und den dazugehörigen Konsequenzen.
„Wer legt die Regeln eigentlich fest?“
Aber wie kann es dann nur dazu kommen, dass Erwachsene die Regeln oft selbst nicht kennen? Das hängt sicherlich mit unserer Schulversammlung zusammen. Es ist unser oberstes Entscheidungsgremium. In diesem Gremium entscheiden Schüler*innen und Lernbegleiter*innen gleichberechtigt über die Regeln unseres Zusammenlebens. Da die Regeln nicht von einer kleinen Clique aus Lehrer*innen bestimmt und durchgesetzt werden, sondern von der gesamten Schulgemeinschaft, ergibt sich daraus fast zwangsläufig ein umfassendes Regelwerk. Denn immer wieder gibt es von Schüler*innen oder Lernbegleiter*innen den Wunsch, ein „noch legales“, aber offensichtliches „Fehlverhalten“ zu unterbinden – einfach weil man merkt, dass dieses Verhalten zu Problemen führt.
Diese Vielzahl an Regeln, die unsere Hospitantin so verwunderte, ist gewissermaßen das Produkt eines urdemokratischen Verfahrens: Alle Mitglieder einer Gemeinschaft entscheiden gemeinsam über die Regeln des Zusammenslebens. Das verändert die Rolle von uns Lernbegleiter*innen massiv und unterscheidet uns stark von unseren Kolleg*innen an den Regelschulen: Wir sind nicht in der Lage, als Erwachsene und Aufsichtspersonen den Heranwachsenden unsere „persönlichen Regeln“ aufzuzwingen. Alles, was wir von unseren Schüler*innen an regelkonformen Verhalten einfordern, muss von den Entscheidungen der Schulversammlung gedeckt sein. Die Schüler*innen wissen das und können somit souverän auf Ermahnungen reagieren. Sie müssen nicht alles „schlucken“, was der*die Lehrer*in „anordnet“.
Ringen um Regeln?
Gleichzeitig macht das unseren Alltag als Lernbegleiter*in aber auch so herausfordernd: Wir müssen oft genug um jede Regel ringen, wir müssen überzeugen, verhandeln, manchmal nachsichtig, oft aber auch klar und „streng“ sein. Ab und zu denke ich mir, dass es einfacher wäre, wenn ich „meine Regeln“ ohne Diskussion durchsetzen und erwarten könnte, dass die Schüler*innen dem „Folge leisten“. Dann merke ich aber sofort, wie unfassbar wichtig diese Prozesse des Aushandelns, des Zuhörens, des Ernstgenommenwerdens und des Entgegenkommens sind. Das nimmt zwar sehr viel Raum in unserer Schule ein, doch ich bin mir sicher, dass wir Schüler*innen dadurch in die Lage versetzen, sich später verantwortungsvoll und souverän in Gruppen, Gemeinschaften und der Gesellschaft zu verhalten. Deshalb sind Regeln ein wichtiger Bestandteil unserer Schule.
Also denk bloß nicht, dass an einer Freien Schule Anarchie und Chaos herrscht! Denk auch nicht, dass die Schüler*innen einem strengen und willkürlichen Regelregime unterworfen sind! Unsere Schule ähnelt eher einer basisdemokratischen Vollversammlung, in der leidenschaftlich um Verhaltensweisen, Regeln und Konsequenzen gerungen und gestritten wird.
Und ich bin mir sicher, dass unsere Hospitantin am Ende des Tages unsere Schule auch so wahrgenommen hat.
Zu Patricks letztem Artikel: Von jemandem, der auszog, um die Demokratie auf die Probe zu stellen
7 Antworten
Nicht die Regeln sind das Problem, sondern die Art und Weise ihres Zustandekommens – und natürlich ihre Beseitigung, wenn sie überflüssig geworden sind.
Wie an allen Orten, die nicht natürlichen Ursprungs sind, gibt es auch an Schulen, von Menschen gemachte Regeln. Je mehr Menschen zusammenkommen, desto mehr Regeln gibt es, damit niemand zu Schaden kommt oder Bedürfnisse Einzelner oder von Minderheiten missachtet werden.
Da Du – womöglich etwas unüberlegt – die Redewendung »Anarchie und Chaos« benutzt hast, hier ein Link zur Bedeutung des Wortes »Anarchie«. Abgesehen von der übergeordneten Herrschaft der Schulbehörde oder des Kultusministeriums stünde einer Demokratischen Schule die Abwesenheit von Herrschaft (Herrschaftslosigkeit) ganz gut zu Gesicht. (-;
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Anarchie
Danke noch einmal für den Hinweis – tatsächlich ist mir das theoretische Konzept der „Anarchie“ durchaus schon länger vertraut. Und auch weiß ich, dass der passendere Begriff die „Anomie“ ist. In dem Fall habe ich das Wort Anarchie also wider besseren Wissens in dem Kontext verwendet – vermutlich weil ich denke, dass die Bedeutung von Anarchie sich im allgemeinen Sprachgebrauch verschoben hat und es mit „Regellosigkeit, schwache soziale Normen, Unverbindlichkeit etc.“ assoziiert wird. Aber du hast ja recht 😉 Ansonsten ist tatsächliche Herrschaftslosigkeit ein Ideal, welchem sich Freie Demokratische Schulen nur annähern können. Schließlich sind wir, wie du es bereits angedeutet hast, als Schulen unweigerlich in einem gesellschaftlichen Herrschaftssystem unterworfen und in diesem eingebunden.
Ich finde das Wort Regel schon nicht passend. Es könnte durch das Wort Wegweiser z. B. ersetzt werden und gibt somit jedem die Möglichkeit zu entscheiden, ob dieser Weg für ihn persönlich der richtige ist., und ob man diesen auch gehen möchte. Damit schließt man im Rahmen des sozialen Umgangs entstehende Interaktionen nicht im Vorfeld aus. Ansonsten sind Regeln ein aufgesetztes, fremdbestimmtes Gerüst, dass die Individualität eines Einzelnen einschränkt. Ich kann die Bedenken der Hospitantin somit gut nachvollziehen.
Wie Matthias bereits ausgeführt hat sind Regeln in komplexeren sozialen Gebilden (wie unsere Schule eine ist) unbedingt notwendig, um die Freiheit aller bewahren und schützen zu können. Dementsprechend finde ich den Begriff „Wegweiser“ irreführend – bzw. lassen sich Regeln nicht als „Wegweiser“ denken. Vielleicht verstehe ich dich aber in diesem Punkt auch falsch. Wir haben z.B. drei Grundregel an der Schule 1) Niemand darf mit Worten oder Taten verletzt werden. 2) Niemand darf in einer Beschäftigung gestört werden. 3) Der Spiel- oder Arbeitsplatz ist ordentlich zu hinterlassen. Wenn diese Regeln nicht beachtet oder wissentlich gebrochen werden, muss dafür Sorge getragen werden, dass die Regeln in Zukunft beachtet oder eingehalten werden – einfach, damit sich andere Kinder und auch Erwachsene geschützt fühlen können. Ansonsten wäre – drastisch gesprochen – niemand mehr sicher vor Gewalt. Es kann meiner Meinung nach in Konfrontation mit solch elementaren Grundregeln keine zugestandene Wahlmöglichkeit dem Einzelnen gegenüber geben. Was passiert denn, wenn ein Kind oder Erwachsener feststellt, dass es für ihn persönlich der richtige Weg ist, sich immer von anderen das zu nehmen, was er gerade möchte, notfalls auch mit Gewalt? Wir wären komplett handlungsunfähig, wenn durch Regeln nicht die Freiheit des Einen eingeschränkt werden kann, um die Freiheit der anderen zu gewährleisten oder auch zu schützen. Ich finde deshalb Matthias Hinweis sehr wertvoll. Regeln an sich sind kein Problem – es bedarf aber eines reflektierten Umgangs mit diesen und die Möglichkeit für jede*n in der Schulgemeinschaft, an der Ausgestaltung oder auch Abschaffung von Regeln mitzuwirken.
Ich freue mich sehr über diese Blogreihe aus Sicht eines Lernbegleiters! Ich schreibe selber einen Schweizer Blog über eine freie demokratische Schule – aber aus Sicht von uns Eltern, und es ist sehr spannend einen Einblick in die andere Seite zu erhalten. Ich werde hier bestimmt regelmässig vorbeischauen. Vielen Dank für deine wertvolle Arbeit!
Herzliche Grüsse
Svea