Von Jemandem, der plötzlich Zeit hatte, um Pflaumen zu naschen

Eine neue Kolumne auf dem Blog von Schools of Trust. Patrick ist Lernbegleiter an einer Freien Schule in Niedersachsen und berichtet ab jetzt wöchentlich von seinen Erfahrungen.

Das Beste an unserer Schule ist nicht die Schulorganisation, das freie Lernen oder das originelle Schulgebäude. Stattdessen ist es die Möglichkeit, im Sommer in den riesigen Schulgarten zu gehen, um sich dort sein eigenes Obst zu pflücken. Jedes Mal, wenn ich in den warmen Monaten in die Baumkrone greife und mir entweder einen Apfel, eine Kirsche oder eine Pflaume pflücke, in das meist saure Fruchtfleisch beiße und schließlich den sauber ausgelutschten Kern auf den Kompost spucke, erfüllt mich eine eigenartige, tiefe Zufriedenheit.

Pausen
Auf der großen Wiese im Garten befindet sich neben vielen Bäumen auch ein tolles Klettergerüst

Ich habe Zeit, mich an einer so simplen Tätigkeit wie dem Obstpflücken zu erfreuen und kann dabei alles um mich herum für einen Moment ausblenden. Es ist ein Privileg, dass ich wirklich zu schätzen gelernt habe. Und es wird zu einem noch größerem Privileg, wenn ich mir vor Augen führe, dass ich dies während meiner Arbeitszeit tun kann (und auch im nächsten Sommer definitiv wieder tun werde).

Für den oder die Nichtlehrer*in mag das banal klingen  – schließlich sind Jobs, in denen man sich ausgedehnte Pausen nehmen oder auch zwischendurch mal ‚abschalten‘ kann durchaus keine Seltenheit. Lehrer*innen  – gerade an Regelschulen – sind normalerweise derart in ihre unzähligen Alltagsgeschäfte eingespannt, dass ihnen buchstäbliche keine Sekunde bleibt, um in der Pause an einen schönen Sommervormittag nach draußen zu gehen, die Hand in Richtung Baumkrone zu strecken, sich die vermeintlich allerbeste Pflaume herabzupflücken, ‘reinzubeißen und für einen kleinen Moment einfach mal zufrieden mit dem Leben zu sein.

 

Der alltägliche Kampf in den Pausen

Stattdessen müssen sich Lehrer*innen nach einer anstrengenden Doppelstunde, in der so ungefähr alles schief gegangen ist, was überhaupt schief gehen kann, in ein vollkommen überfülltes Lehrerzimmer quetschen – um sich dort mit mindestens 20 bis 40 anderen gestressten und gehetzten Kolleg*innen auseinandersetzen. Es gibt immer jemanden, der etwas von einem braucht oder der unbedingt noch etwas besprechen muss (Und hier muss ich ehrlich gestehen: Als Referendar war i.d.R. ich immer derjenige, der die Kolleg*innen wegen Nichtigkeiten angequatscht hat – geschätze Kolleg*innen, bitte verzeiht!). Schulpausen sind keine wirklichen Pausen, dass weiß jede*r Lehrer*in. Und ähnlich wird es auch den meisten Schüler*innen gehen.

Denn nach meiner Erfahrung ist die offizielle Schulpause als Schüler an einer Regelschule vor allem eines: Kampf. Man rempelt sich durch eine chaotische Menge, ist einem unfassbaren Lärm ausgesetzt, weicht den ‚bösen Jungs‘ aus, versteckt sich mit der Zigarette vor den Lehrer*innen, schleicht sich unerlaubterweise vom Schulgelände, zeigt sein Bestes beim Kicken auf dem Schulhof, versucht das Mädchen oder den Jungen, in die, den man verschossen ist, auf sich aufmerksam zu machen…

PausenWenn ich im Sommer am Pflaumenbaum stehe und die Kinder dabei beobachte, wie sie auf den Baum klettern und mit einer Gelassenheit und Ruhe die Früchte pflücken, frage ich mich, wie ich es sowohl als Schüler als auch als Lehrer damals nur aushalten konnte, diese Momente in meinem Schulalltag nicht zu haben.

Warum nur wird gerade in größeren Schulen das ungeheure Problem dieser „Nicht-Pausen“ stillschweigend hingenommen? Wie kann da erwartet werden, dass junge Menschen die Ruhe und die Zeit finden, sich mit den schulischen Inhalten intensiv auseinanderzusetzen?

 

Der Umgang mit dem Zeitdruck

Denn eine angemessen Schüler*innenzahl sowie eine im Vergleich zu den Regelschulen freiere Arbeitszeit- und Pausenaufteilung ist nicht nur ein Gewinn für das Wohlbefinden aller – es ist meiner  Meinung nach eine Grundvoraussetzung dafür, dass ein wirkliches Lernen gelingen kann, was nicht nur aus „Auswendiglernen“ besteht. Denn das in echten Austausch treten, das in Kontakt sein mit der Welt, seinen Mitmenschen, Gegenständen, Zusammenhängen, Tatsachen, Mythen, Erklärungen und Geschichten braucht vor allem eins: Zeit!

Aber auch wir an unserer Schule haben leider nicht unendlich viel Zeit zu Verfügung. Trotz aller Freiräume, die wir uns erkämpft haben (gerade in den unteren Jahrgängen), ist unsere Schule auf 9 bis 10 Jahre begrenzt. Zum Ende  dieses Zeitraums streben die meisten Schüler*innen einen Regelschulabschluss an. Das bedeutet zwangsläufig, dass sie ab einem gewissen Zeitpunkt ganz viel ‚staatlich verordnetes‘ Wissen in sich aufnehmen und in den Abschlussprüfungen „auszuwürgen‘ haben. Eine intensive und insbesondere individuelle Auseinandersetzung mit den verordneten Inhalten ist da kaum möglich.

Pausen
Patrick arbeitet an einer Freien Schule in Niedersachsen. Hier berichtet er wöchentlich über seine Erfahrungen.

Dennoch bin ich der Überzeugung, dass unsere Schüler*innen am Ende ihrer Schullaufbahn selbstbewusst mit dieser Art von Zeitdruck und Zwang umgehen können. Vor allem wissen sie, wie unheimlich wertvoll es ist, die ganze Arbeit einmal kurz zur Seite zu schieben, auf einen Pflaumenbaum zu klettern und für einen kurzen Augenblick einfach mal das Leben zu genießen. Das ist definitiv das Beste an unserer Schule.

 

 

 

Zu Patricks letztem Artikel: Von Jemandem, der auszog, um ein alternatives Schulsystem zu entdecken

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